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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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flüsternd.
    »Ich weiß«, sagt er. »Ich bin auch müde.«
    Sie stehen eine Weile so da, bis Kenan das Gefühl hat, dass die Zeit drängt, worauf er einen Schritt zurücktritt, sie noch einmal küsst und zur Tür geht.
    Sobald er im Flur ist, setzt er sich auf die Treppe und drückt die Stirn an die Knie. Er will nicht hinausgehen. Er will nicht auf Schritt und Tritt Angst haben, dass er getötet werden könnte. Aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Er weiß, dass er hinausgehen und sich den Männern auf den Bergen stellen muss, wenn er einer der Menschen sein will, die die Stadt wiederaufbauen, einer von denen, die das Recht haben, auch nur darüber zu sprechen, wie Sarajevo wiedererstehen soll. Seine Familie braucht Wasser, und er wird es holen. Die Stadt ist voller Menschen, die das Gleiche machen wie er, und alle finden eine Möglichkeit weiterzuleben. Sie sind keine Feiglinge, und sie sind keine Helden.
    Seit dem Feuerüberfall bei der Brauerei hat er dem Cellisten jeden Tag zugehört. Er steht jeden Tag um vier Uhr an der Straße, drückt den Rücken an die Wand und sieht zu, wie sich die Stadt wieder zusammenfügt und die Menschen aus ihrer Schockstarre erwachen. Heute wird der Cellist zum letzten Mal spielen. Er hat seine zweiundzwanzig Tage durchgehalten. Jedes Menschen, der auf der Straße starb, als er nach Brot anstand, ist gedacht worden. Kenan weiß, dass niemand für die Menschen spielt, die bei der Brauerei starben, die erschossen wurden, als sie die Straße überqueren wollten, oder für irgendein anderes Opfer der zahllosen Angriffe. Dazu bräuchte man eine ganze Heerschar von Cellisten. Aber er hat gehört, was es zu hören gab. Das genügt.
    Kenan steht auf und steigt die Treppe hinab. Im Erdgeschoss hält er inne und bleibt vor Frau Ristovkis Tür stehen. Er horcht auf ein Lebenszeichen, fragt sich, ob sie wach ist, ob sie weiß, dass es wieder Strom gibt. Normalerweise weiß sie so etwas als Erste.
    Er richtet sich auf, räuspert sich und klopft an die Tür. Er hört eine Art Schlurfen von drinnen, aber die Tür wird nicht geöffnet. Er klopft noch einmal, diesmal lauter, und wartet, dass Frau Ristovski kommt und ihm ihre Flaschen bringt, damit er sich auf den langen Marsch bergab, durch die Stadt, bergauf zur Brauerei und wieder zurück begeben kann.

Dragan
    Man kann nicht mehr sagen, welche Version der Lüge die Wahrheit ist. Ist das wahre Sarajevo die Stadt, in der Menschen glücklich waren, einander gut behandelt, ohne Hass miteinander gelebt haben? Oder ist das wahre Sarajevo die Stadt, wie er sie heute sieht, in der die Menschen einander töten, wo Kugeln und Granaten von den Bergen herabfliegen und die Häuser einstürzen? Dragan kann sich nur immer wieder die Frage stellen. Er glaubt nicht, dass es darauf eine Antwort gibt.
    Es ist kurz nach Mittag. Er ist jetzt schon fast zwei Stunden hier. Sitzt in einer Art Niemandsland fest, wird aber nicht daran gehindert, zur Bäckerei zu gehen, wo ein kleiner Laib Brot auf ihn wartet. Wenn er will, kann er jederzeit die Straße überqueren. Niemals ist jemand gekommen und hat gesagt, nein, Dragan, du kannst nicht hinüber. Es war stets seine eigene Entscheidung.
    Er weiß jedoch, welche Lüge er sich selbst erzählen wird. Die Stadt, in der er lebt, ist voller Leute, die einander eines Tages wieder wie Menschen behandeln werden. Der Krieg wird enden, und man wird voller Bedauern auf ihn zurückblicken, nicht mit freudigen Erinnerungen an verblassten Ruhm. Unterdessen wird er weiter durch die Straßen ziehen. Straßen, auf denen keine Toten herumliegen. Er wird sich jetzt so benehmen, wie sich eines Tages hoffentlich alle benehmen werden. Denn die Zivilisation ist keine Sache, die man aufbaut und dann für immer hat. Man muss ständig an ihr bauen, sie tagtäglich wiedererschaffen. Sie verschwindet weitaus schneller, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Und wenn er leben will, dann muss er alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass die Welt, in der er leben möchte, untergeht. Solange Krieg herrscht, ist das Leben eine Präventivmaßnahme.
    Der Kameramann ist weg, zu einer belebteren Kreuzung. Er braucht jemanden, der es darauf ankommen lässt und erschossen oder zumindest beschossen wird oder, falls das nicht geschieht, so aussieht, als wäre er in Todesangst. Irgendwann wird der Kameramann das bekommen, was er haben will. Es ist nur eine Frage der Zeit.
    Dragan entscheidet sich. Er wird hinübergehen. Er wird sich
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