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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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los.

Dragan
    Ein Mann will die Straße überqueren. Man hat ihn gewarnt, und er sieht sicherlich auch den Toten, aber anscheinend stört ihn das nicht. Er ist jung, vielleicht ein bisschen vorwitzig. Dragan fragt sich, ob es ihn womöglich reizt, sein Glück an einer Kreuzung auf die Probe zu stellen, an der bekanntermaßen ein Heckenschütze lauert. Vielleicht ist das eine neue Sportart. Hundertmeterlauf mit Kugeln.
    Dragan sieht, dass auf der anderen Straßenseite eine Kamera aufgestellt wird. Ein Mann in einer kugelsicheren Weste steht hinter der Barrikade und mustert durch den Sucher den Schauplatz, schätzt Entfernungen und Einstellungswinkel ab, verschafft sich einen Eindruck vom Bild der Zerstörung und ihrem optischen Wiedergabewert. Er ist glatt rasiert und tadellos gekleidet. Dragan kann von weitem die ordentlichen Bügelfalten seiner Hose erkennen. Jedenfalls meint er sie zu sehen. Dennoch wundert er sich, nicht so sehr über den Kameramann, sondern vielmehr über dessen Standort. Seiner Meinung nach sollte die Kamera auf dieser Straßenseite stehen, so nahe wie möglich an dem Hotel, in dem die ausländischen Journalisten absteigen. Wo es nach wie vor Essen, heißes Wasser und oft auch Strom gibt. Dieser Mann hat einen großen Umweg gemacht. Er findet es sonderbar und weiß nicht, was er davon halten soll.
    Der Mann, der die Straße überqueren will, hat die Kamera ebenfalls gesehen und zögert, als überlege er, ob er warten soll, damit ihn die Kamera in vollem Lauf erfasst. Er blickt sogar an sich herab, überprüft seine Kleidung. Anscheinend kommt er zu dem Schluss, dass er in diesem Aufzug nicht ins Fernsehen kommen will, denn mit einem Mal gibt er sich einen Ruck und tritt auf die Kreuzung.
    Alle, der Kameramann eingeschlossen, halten inne und schauen zu. Es ist kein großes Publikum, allenfalls eine Handvoll Menschen, und sie haben das alles schon gesehen, mit zweierlei Ausgang. Der Mann rennt geradeaus. Er ist schnell. Ein neuer Weltrekord? Möglicherweise. Vielleicht sollte man die Leute vom Guinness-Buch der Rekorde verständigen.
    Aus irgendeinem Grund, den nur er kennt, feuert der Heckenschütze nicht, und als der Mann die andere Straßenseite erreicht, meint Dragan die enttäuschte Miene des Kameramanns zu sehen, weil der Mann am Leben ist und er den Sprint nicht aufgenommen hat. Dragan ärgert sich darüber, kommt sich vor wie ein Tier im Zoo.
    Ein Hund taucht hinter dem Kameramann auf, erschreckt ihn, und Dragan lächelt. Doch der Hund beachtet ihn nicht und läuft weiter. Als er näher kommt, fragt sich Dragan, ob es der gleiche Hund ist, den er vorhin gesehen hat, als Emina noch da war. Der Hund wirkt ebenso zielstrebig, so als müsste er irgendwo hin. Aber er kann sich nicht mehr genau erinnern, wie dieser Hund ausgesehen hat. Es könnte der gleiche sein. Der Hund trabt quer über die Fahrbahn auf Dragan zu. Als er sich dem Toten nähert, fragt sich Dragan, ob er versuchen wird, den Leichnam zu fressen. Er muss hungrig sein, denkt er. In dieser Stadt sind alle hungrig, bis auf die Gangster und die Politiker. Aber der Hund läuft an dem Toten vorbei, ohne auch nur an ihm zu schnuppern. Es ist, als wäre er gar nicht da.
    Dragan hört das Klirren der Marke, als der Hund vorbeitrottet, sieht, dass er ein Halsband trägt, aber dem Zustand seines Fells nach zu schließen, lebt er offensichtlich auf der Straße. Er blickt weder zu ihm noch zu jemand anders auf, und Dragan fragt sich, ob der Hund die ganze Menschheit abgeschrieben hat. Der beste Freund des Menschen will nichts mehr mit ihm zu tun haben, unterscheidet nicht mehr zwischen einem Toten und einem Lebenden. Dragan würde den Hund am liebsten zu sich rufen, ihm etwas zu fressen geben, sein Fell streicheln, irgendetwas tun, was ihm seinen Glauben zurückgibt. Aber er hat nichts zu fressen, und er weiß, dass der Hund nicht kommen wird, selbst wenn er ihn ruft. Als der Hund um die Ecke biegt und verschwindet, kommt er sich ein bisschen so vor wie seinerzeit, als er dastand und zusah, wie der Bus mit seiner Frau und seinem Sohn losfuhr und immer kleiner wurde.
    Er glaubt, dass es derselbe Hund gewesen ist. Seit Ausbruch des Krieges ist er durch die Straßen gezogen und hat versucht, so wenig wie möglich auf seine Umgebung zu achten. Er hat nichts gesehen, was er nicht sehen wollte, nichts getan, was er nicht tun musste.
    Der Kameramann hat Schwierigkeiten mit seiner Kamera. Er legt sie auf den Boden und kramt in einem großen Rucksack
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