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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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Straße. Wieder scheint die Zeit langsamer zu verstreichen, so als verginge eine halbe Ewigkeit, bis er den nächsten Schritt tut. Er hört, wie seine Füße auf den Boden treffen. Das laute Klatschen hallt ihm in den Ohren. Er hat einen trockenen Mund. Als er drei Viertel des Wegs hinter sich hat, fällt ihm ein, dass er den Kopf einziehen muss, und seine Schultern schmerzen, als er sich duckt, aber er rennt weiter.
    Dragan erreicht den Toten. Die Sohlen seiner Schuhe kleben im Blut und rutschen gleichzeitig weg. Er bückt sich, ergreift die eine Hand, leblos und noch warm. Die andere bekommt er nur schwer zu fassen. Er verliert das Gleichgewicht und fällt hin. Dragans Gesicht ist nur Zentimeter von dem zerschossenen Kopf des Toten entfernt. Ein Hautlappen hängt wie ein billiges Toupet über dem klaffenden Loch im Schädel. Aus irgendeinem Grund macht es Dragan nichts aus. Er wundert sich darüber, weiß, dass ihm normalerweise davor grauen würde. Aber im Moment spielt es keine Rolle. Wichtig ist nur, dass der Tote von der Straße wegkommt.
    Irgendetwas bohrt sich mit einem dumpfen Schlag in den Leichnam vor ihm. Ein Schuss knallt. Der Heckenschütze hat gefeuert und ihn um eine halbe Armeslänge verfehlt. Dragan ergreift die andere Hand des Toten und versucht aufzustehen. Er schafft es nicht. Der Leichnam ist zu schwer. Aber er kann in die Hocke gehen und den Toten in einer Art unbeholfenem Krebsgang in Richtung Güterwaggon ziegen.
    Er weiß, dass der Heckenschütze erneut schießen wird, aber er hat keine Angst. In diesem Augenblick kennt er keine Furcht. Mit Tapferkeit hat das nichts zu tun. Es gibt keine Helden, keine Schurken, keine Feiglinge. Es geht nur darum, was er kann und was er nicht kann. Es gibt nur Recht und Unrecht, aber nichts dazwischen. Die Welt ist zweigeteilt. Zwischentöne werden später kommen.
    Er hört die Kugel nicht einschlagen, doch er hört den Schuss. Er glaubt nicht, dass er getroffen wurde, ist sich aber nicht sicher. Während er den Toten die letzten Meter bis zur Deckung zieht, wartet er darauf, dass er den Schmerz spürt, das nasse Blut, aber nichts tut sich. Schwer atmend, schwitzend setzt er sich auf den Boden. Er schaut über die Straße und sieht, dass ihn der Kameramann mit offenem Mund anstarrt. Er hat die Kamera in den Händen, aber nicht an der Schulter. Er hat weder ihn noch den Toten auf Film gebannt.
    Gut, denkt er. Ich lebe nicht in einer Stadt, in der die Toten auf den Straßen herumliegen, und du wirst es der Welt auch nicht mitteilen.
    Einer der beiden Männer, die auf seiner Straßenseite stehen, kommt auf ihn zu. Als eine Granate durch die Luft pfeift, überlegt er es sich anders. Die Granate schlägt auf der anderen Seite des Güterwaggons ein, bei den Überresten der leerstehenden Kaserne. Dragan liegt auf dem Bauch, hält die Hände über den Kopf und drückt das Gesicht auf den Boden. Er versucht nicht daran zu denken, was passieren wird, wenn eine Granate auf dieser Seite der Barrikade einschlägt. Die Männer auf den Hügeln sind wütend. Nur zu, denkt Dragan, aber ärgert euch über euch selbst. Ihr hattet die Gelegenheit, mich zu töten, und bald schon werdet ihr sie wieder haben.
    Die Verteidiger antworten mit Feuerstößen, gefolgt von vereinzelten Schüssen, dem Erkennungszeichen der eigenen Scharfschützen. Die Schüsse reizen die Männer auf den Bergen zu weiterem Mörserfeuer, und ein paar Minuten lang tauschen beide Seiten Salven aus, bis es schließlich still wird, zumindest relativ still.
    Dragan setzt sich auf, wischt sich den Schmutz vom Gesicht. Er fragt sich, ob dieser Krieg jemals enden wird. Er fragt sich, wie es sein wird, wenn es dazu kommt. Werden die Menschen vergessen? Sollten sie es? Er weiß keine Antwort auf diese Fragen. Aber er ist froh, dass er darüber nachdenkt. Wenn er zur Bäckerei kommt, wird er seine Kollegen fragen, was sie denken. Möglicherweise wundern sie sich. Er hat seit langem nicht mehr mit ihnen gesprochen.
    Er steht auf, spürt, wie steif seine Knie und der Rücken sind. Er geht von dem Leichnam weg und hebt Eminas Mantel auf. Neben ihm liegt der Hut des Toten, den er ebenfalls aufhebt. Er betrachtet beide eine Zeitlang. Dem Zustand der Kleidungsstücke nach zu urteilen, würde er meinen, Emina sei tot und der Mann, dem der Hut gehörte, habe überlebt. Der äußere Anschein kann manchmal trügerisch sein. Vor allem hier. Wenn diese Stadt untergehen sollte, dann nicht wegen der Männer auf den Bergen, sondern
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