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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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her, seit sie Hasan im vierzehnten Stock des Parlamentsgebäudes stehen gelassen hat, zehn Tage, seit sie sich von Edin Karamans Mördertruppe abgesetzt hat. Dies ist die erste Nacht, in der sie seitdem in ihrer Wohnung geschlafen hat, und sie haben sie bereits gefunden. Sie ist ein bisschen überrascht. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so tüchtig sind.
    Die Waffe ihres Vaters liegt auf dem Nachttisch neben ihr. Sie ist geladen und einsatzbereit, aber sie greift nicht danach, lässt ihre Hand unter dem Stapel Decken. Sie fragt sich, wie das Wetter heute werden wird. Gestern sah es so aus, als könnte es regnen, aber man kann nie wissen, wie es am nächsten Tag sein wird. Sie hofft, dass es regnet. Die Stadt könnte das Wasser gebrauchen.
    Sie jagen sie jetzt schon seit zehn Tagen, und sie haben sie gefunden, weil sie es zugelassen hat. Sie wussten die ganze Zeit, wo sie war, wussten, dass sie in einem der Häuser über dem Cellisten war, aber sie konnten sie nicht finden, sooft sie auch nach ihr Ausschau hielten. Zweimal hatte sie Edin Karamans Kopf im Visier, aber sie hat nicht abgedrückt. Sie hat ihr Gewehr nicht mehr abgefeuert, seit sie den Heckenschützen getötet hat, den die Männer auf den Bergen auf den Cellisten angesetzt hatten. Aber sie hätte es getan, wenn es nötig gewesen wäre, und sie glaubt, dass er ihretwegen am Leben geblieben ist.
    Er hat zweiundzwanzig Tage gespielt, genau wie er gesagt hatte. Jeden Nachmittag um vier Uhr, ohne Rücksicht, wie schwer rundum gekämpft wurde. An manchen Tagen hatte er Zuhörer. An anderen gingen so viele Granaten nieder, dass sich niemand, der bei Sinnen war, auf der Straße aufhielt. Ihm schien das einerlei zu sein. Er spielte immer auf die gleiche Weise. Nur am letzten Tag wich er von seiner Gewohnheit ab.
    Sie lag in ihrem Versteck, wo keiner sie sehen konnte. Sie spürte, wie er auf die Straße trat, aber bevor er zu spielen begann, wusste sie, dass niemand auf ihn schießen würde. Die Männer auf den Bergen hatten es aufgegeben. Ihre Hand lockerte sich, und sie nahm den Finger vom Abzug. Als der Cellist zu spielen begann, blickte sie auf die Straße hinab. Sie war voller Menschen. Niemand bewegte sich. Alle standen reglos da, und obwohl ihr klar war, dass sie gespannt zuhörten, kam es ihr vor, als wären sie gar nicht richtig da.
    Strijela gab sich den bedächtigen Saitenklängen hin. Sie spürte, wie sie von den klagenden Lauten einen Kloß im Hals bekam, kämpfte gegen die Tränen an. Sie atmete tief und rasch durch. Das Wasser stieg ihr in die Augen, als sich die Töne immer höher emporschwangen. Weder die Männer auf den Bergen noch die Männer in der Stadt, weder sie selbst noch irgendjemand anders hatte das Recht, das zu tun, was sie getan hatten. Es war nie geschehen. Es durfte nicht geschehen sein. Aber sie kannte diese Töne. Sie waren ein Teil von ihr geworden. Sie teilten ihr mit, dass alles genau so geschehen war und man nichts dagegen tun konnte. Weder Trauer noch Rache oder eine edelmütige Tat konnte es ungeschehen machen. Aber man hätte damit aufhören können. Es war möglich. Die Männer auf den Bergen mussten keine Mörder sein. Die Männer in der Stadt mussten sich nicht erniedrigen, um ihren Angreifern entgegenzutreten. Sie selbst musste nicht voller Hass sein. Die Musik verlangte, dass sie sich daran erinnerte, völlig davon überzeugt war, dass es auf der Welt noch Güte geben konnte. Die Töne waren der Beweis dafür.
    Strijela schloss die Augen, und als sie sie wieder aufschlug, war die Musik vorüber. Der Cellist blieb noch lange auf seinem Hocker sitzen. Er weinte. Sein Kopf war nach vorn gebeugt, und ein paar schwarze Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn. Mit einer Hand bedeckte er sein Gesicht, die andere hatte er um den Resonanzkörper des Cellos geschlungen. Schließlich stand er auf und ging zu dem Blumenhaufen, der seit dem Tag, an dem die Granate einschlug, ständig größer geworden war. Er betrachtete ihn eine Zeitlang, dann warf er seinen Bogen auf den Haufen. Niemand auf der Straße rührte sich. Alle hielten den Atem an und warteten darauf, dass er etwas sagte. Aber der Cellist blieb stumm. Er hatte nichts mehr zu sagen. Er wandte sich ab, ergriff seinen Hocker und ging durch die Tür zu seiner Wohnung, ohne noch einmal zurückzublicken. Allmählich setzten sich die Menschen in Bewegung, verließen nach und nach die Straße und widmeten sich wieder ihrem Leben.
    Die Schritte sind jetzt am obersten Treppenabsatz
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