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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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wird, wie fast alle in dieser Stadt, und er fragt sich, ob irgendwann der Tag kommen wird, da er nicht mehr genügend Wasser für seine Familie tragen kann. Was dann? Muss er seinen Sohn mitnehmen, so wie viele andere? Er will das nicht. Wenn er getötet werden sollte, möchte er nicht, dass es irgendjemand aus seiner Familie miterlebt, ebenso wenig, wie er im letzten Moment ihre Gesichter sehen will, wenn er sterben sollte. Und sollten sowohl er als auch sein Sohn getötet werden, wird seine Frau niemals darüber hinwegkommen. Wenn nur sein Sohn stirbt, nein, sobald er daran denkt, würde er sich am liebsten wieder zu Boden sinken lassen.
    Er steigt die Treppe ins Erdgeschoss hinab und klopft an die Tür von Frau Ristovskis Wohnung. Als er von drinnen kein Geräusch hört, klopft er noch mal, lauter und kräftiger. Er hört ein Schlurfen und wartet, dass die Tür geöffnet wird.
    Frau Ristovski hat fast ihr ganzes Leben in diesem Haus gewohnt, jedenfalls sagt sie das. Wenn man bedenkt, dass sie weit über siebzig ist und dieses Haus kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde, kann das seiner Ansicht nach nicht stimmen, aber Kenan hat keine Lust, darüber zu streiten. Frau Ristovski glaubt, was sie glaubt, und weder die Wahrheit noch Fakten können sie umstimmen.
    Als Kenan und seine Frau in dieses Haus zogen, war ihre älteste Tochter gerade geboren. Frau Ristovski beschwerte sich ständig über das Geschrei des Kindes, und als frischgebackene Eltern hörten sie sich ihre Klagen an und befolgten den Rat eines älteren und erfahreneren Menschen. Nach einer Weile jedoch wurde ihnen klar, dass es nicht das Geschrei war, das sie störte. Kenan argwöhnte sogar, dass sie es genoss, endlich einen Blitzableiter für ihre unterschwellige Unzufriedenheit zu haben. Obwohl er sich über ihr ständiges Einmischen ärgerte, hatte Kenan Frau Ristovski gewähren lassen, oftmals trotz der Einwände seiner Frau. Ihre Biestigkeit hatte etwas an sich, das er bewunderte, auch wenn es ihm nicht gefiel.
    Nach Kriegsausbruch hatte Frau Ristovski an ihre Tür geklopft und sich, als Kenan sie öffnete, an ihm vorbeigedrängt. Seine Frau war unterwegs, aber Frau Ristovski nahm es offenbar nicht zur Kenntnis. Sie setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, während er Kaffee kochte. Er brachte den Kaffee auf einem Silbertablett und stellte ihn auf dem niedrigen Tisch vor ihr ab, aber sie rührte ihn nicht an.
    »Haben Sie Weinbrand?«, fragte sie und rückte das Tablett zurecht.
    »Natürlich«, sagte er. Er goss ihnen beiden einen großzügigen Schuss ein.
    Frau Ristovski kippte ihr Glas in einem Zug hinunter. Kenan sah, wie ihr faltiger Hals rot anlief, dann wieder verblasste.
    »Tja«, sagte sie. »Das wird mein Ende sein.«
    »Was denn?«, fragte er und dachte, sie meinte den Weinbrand.
    »Dieser Krieg.« Sie schaute ihm in die Augen. Er versuchte nach besten Kräften, nicht auf das große Mal an der einen Wange zu stieren, sich nicht zu fragen, ob es größer wurde. Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben noch keinen Krieg durchgemacht. Sie haben keine Ahnung, wie das ist.«
    »Er wird nicht lange dauern«, sagte er. »Europa wird etwas unternehmen, damit er sich nicht ausweitet.«
    Sie schnaubte. »Das spielt für mich keine Rolle. Ich bin zu alt für die Sachen, die man machen muss, um im Krieg zu überleben.«
    Kenan war sich nicht sicher, was sie meinte. Er wusste, dass sie kurz vor dem letzten Krieg geheiratet hatte und ihr Mann in den ersten Tagen nach dem Einfall der Deutschen umgekommen war. »Vielleicht wird es nicht so schlimm«, sagte er und bedauerte es augenblicklich, weil er wusste, dass es nicht stimmte.
    »Sie haben keine Ahnung«, wiederholte sie.
    »Nun ja«, sagte er. »Ich werde Ihnen helfen. Alle in diesem Haus werden einander helfen. Sie werden schon sehen.«
    Frau Ristovski ergriff ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck. Sie schaute Kenan nicht an, nahm sein Lächeln nicht zur Kenntnis. »Wir werden ja sehen«, sagte sie.
    Ein paar Wochen später, nachdem die Männer auf den Bergen die Stadt von der Wasserversorgung abgeschnitten hatten, tauchte sie vor seiner Tür auf, als er gerade zu seinem ersten Gang zur Brauerei aufbrechen wollte. Sie hatte zwei Plastikflaschen dabei, die sie ihm in die Hände drückte. »Versprochen ist versprochen«, sagte sie. Dann drehte sie sich um, ging wieder in ihre Wohnung und ließ Kenan verdutzt unter der Tür stehen. Aber er wusste, dass er sie nicht zurückweisen konnte. Kein
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