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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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Beide sind jung, jünger als sie, und in einer anderen Umgebung, einer anderen Zeit könnte sie sich fast vorstellen, dass sie über die jüngsten Fußballergebnisse sprechen. Vielleicht tun sie es, denkt sie. Es wäre möglich, sogar wahrscheinlich, dass sie das Ganze als eine Art Spiel betrachten. Kleine Jungs, die Bomben statt Bälle werfen.
    Dann wenden beide den Kopf, als würden sie von jemandem gerufen, den Strijela nicht sehen kann, und sie weiß, dass der Zeitpunkt zum Schießen gekommen ist. Nichts hat ihr die Entscheidung abgenommen, auf wen sie als Erstes zielen soll, also sucht sie sich einen aus. Sie kann nicht sagen, ob es einen Grund dafür gibt, ob es daran liegt, dass der eine Schuss einfacher ist, ob sie der eine an jemanden erinnert, den sie einst kannte und mochte oder nicht mochte, oder ob ihr einer gefährlicher vorkommt als der andere. Sie weiß lediglich, dass sie ausatmet und den Finger, der bislang am Abzug lag, durchdrückt, worauf eine Kugel fast so schnell wie der Schall aus dem Lauf schießt, im nächsten Moment Stoff, Haut, Fleisch, Knochen und Organe zerfetzt und binnen kurzer Zeit ein Lebewesen in einen Leichnam verwandelt.
    Während sich Strijela auf den zweiten Schuss vorbereitet, wird ihr von einer Sekunde zur anderen klar, dass etwas schiefgegangen ist. Die Männer auf den Bergen wissen, wo sie ist. Sie lässt den Schuss sein und rollt sich zur Seite, ist sich jetzt bewusst, dass man sie im Blick hat, dass ein Heckenschütze die ganze Zeit hinter ihr her war und sie sich in dem Augenblick, als sie schoss, verraten hat. Sie haben ihr eine Falle gestellt, und sie ist hineingetappt. Eine Kugel prallt dort, wo sie eben noch lag, auf den Boden. Als sie zum ausgebrannten Treppenhaus huscht, das sie neun Stockwerke tiefer und aus dem Gebäude führen wird, hört sie einen Gewehrschuss, nicht aber den Einschlag der Kugel. Das heißt entweder, dass der Heckenschütze danebengeschossen hat, oder, dass sie getroffen wurde. Sie spürt keinen Schmerz, hat aber oft gehört, dass man ihn zunächst nicht wahrnimmt. Sie muss nicht nachsehen, ob sie getroffen ist. Wenn eine Kugel sie erwischt hat, wird sie es früh genug merken.
    Als Strijela ins Treppenhaus tritt, fliegt eine Mörsergranate durchs Dach und explodiert. Sie ist zwei Absätze tiefer, als eine weitere einschlägt und den neunten Stock zum Einsturz bringt. Im sechsten Stock angekommen, überdenkt sie die Lage, biegt in einen schmalen, dunklen Korridor ab und läuft, so schnell sie kann, vor der Mörsergranate davon, die, wie sie weiß, jeden Moment im Treppenhaus hochgehen wird. Sie kommt weit genug, um den Stahl-, Holz- und Betonsplittern zu entgehen, die durch die Explosion in alle Richtungen geschleudert werden, eine Vielzahl von Kugeln, um ihr die eine heimzuzahlen. Doch dann, als das letzte Schrapnell am Boden aufprallt, macht sie kehrt und rennt zum Treppenhaus zurück. Sie weiß zwar nicht, was davon übrig ist, aber sie hat keine Wahl. Es gibt keinen anderen Ausweg aus dem Gebäude, und wenn sie bleibt, wird man es ihr mit Zins und Zinseszins heimzahlen. Der sechste Stock ist in den fünften gestürzt, und als sie auf den Treppenabsatz hinunterspringt, fragt sie sich, ob er sie trägt. Er hält, und von dort aus muss sie nur dicht an der Innenwand bleiben, wo die Treppe ans Mauerwerk stößt, wo die Last der schichtweise herabgestürzten oberen Stufen weniger schwer wiegt.
    Strijela hört eine weitere Mörsergranate einschlagen, als sie das Erdgeschoss erreicht, und obwohl die Haustür, die auf die Straße führt, nur ein paar Schritte entfernt ist, läuft sie in den Keller weiter, wo sie sich durch einen schummrigen Korridor vorantastet, bis sie auf eine Tür stößt. Sie drückt sie auf. Durch den jähen Wechsel von der Dunkelheit ins Licht wird sie einen Moment lang geblendet, doch ohne Zögern tritt sie auf eine niedrige Treppe an der Nordseite des Gebäudes, wo sie vor den Männern auf dem Berg im Süden zunächst geschützt ist. Bevor sich ihre Augen wieder an die Umgebung gewöhnt haben, stellt sie fest, dass der Widerhall der Granaten ihr Gehör in Mitleidenschaft gezogen hat; es erinnert sie an einen Tag im Schwimmbad, als sie und eine Freundin sich unter Wasser abwechselnd ihre Namen zugerufen und darüber gelacht haben, wie sie klangen, völlig unverständlich, fremd und verzerrt. Als sie sich ostwärts wendet, weg von dem Gebäude, nimmt sie einen Schmerz in der Seite wahr und blickt hinab, rechnet fast damit, ihre
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