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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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Eingeweide zwischen den gesplitterten Rippen hervorquellen zu sehen. Bei einer kurzen Untersuchung findet sie nur einen leichten Riss, eine Kleinigkeit, die sie sich irgendwann während ihrer Flucht zugezogen hat.
    Als sie zum Hauptquartier ihrer Einheit in der Innenstadt geht, bemerkt sie, dass der Himmel dunkel wird. Ein paar Regentropfen fallen ihr auf die Stirn, lassen sie ihre eigene Hitze spüren, während sie verdampfen. Als sie ihre Seite abtastet, hat sie kein frisches Blut mehr an der Hand, und Strijela fragt sich, was es zu bedeuten hat, dass sie mit einer unbedeutenden Verletzung davongekommen und trotzdem nicht erleichtert ist.

Kenan
    Ein weiterer Tag ist angebrochen. Licht sickert in die Wohnung und fällt auf Kenan Šimunović, der in der Küche nach der Plastikflasche greift, die den letzten Viertelliter Wasser für seine Familie enthält. Seine Bewegungen sind langsam und steif. Er kommt sich wie ein alter Mann vor, obwohl er kürzlich erst seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hat. Seiner Frau Amila, die im Wohnzimmer schläft, weil es dort sicherer ist als in ihrem Schlafzimmer, das an der Straße liegt, geht es genauso. Sie ist noch keine siebenunddreißig, aber ihre Haare sind grau, und die Haut ist erschlafft, wie bei einer verblühten Frau, die sie nie war. Die mittleren Lebensjahre sind ihnen irgendwie verlorengegangen.
    Wenigstens merkt man bei ihren Kindern vorerst noch nichts. Wie alle Kinder begehren sie gegen die Grenzen auf, die man ihnen setzt, möchten erwachsen sein und wünschen sich, dass alles anders ist. Sie wissen, was vor sich geht, aber sie verstehen es nicht. Vielleicht, vermutet Kenan, werden sie deswegen nicht alt.
    Die Familie ist seit fast einem Monat ohne Strom und fließendes Wasser. Ohne Strom ist das Leben nur schwieriger, ohne Wasser hingegen unmöglich. Deshalb trägt Kenan alle vier Tage ein Sammelsurium von Plastikbehältern zusammen und begibt sich den Hang hinab, durch die Altstadt, über den Fluss Miljacka und in die Berge nach Stari Grad, zur Brauerei. Ab und zu kann man auch näher gelegene Wasserstellen finden, und er hält stets Ausschau danach, aber man kann sich nicht darauf verlassen, und sie sind nicht sicher. Er möchte nicht die Männer auf den Bergen überleben, nur um durch einen Krankheitserreger im Wasser zu sterben, eine Gefahr, die er in einer Stadt, die keine funktionierende Kanalisation mehr hat, durchaus für möglich hält. Das Wasser der Brauerei kommt aus einer tiefen unterirdischen Quelle, und seiner Ansicht nach ist das den weiteren Weg und das Risiko wert.
    So leise wie möglich nimmt Kenan die letzte Wasserflasche und geht den Flur entlang zum Badezimmer. Er dreht den Lichtschalter um, ein Reflex aus früherer Zeit. Die Glühbirne an der Decke leuchtet auf. Kenan reißt ein Streichholz an und hält die Flamme an den Kerzenstummel, der am Rand des Waschbeckens unter dem Spiegel steht. Er drückt den Stöpsel in den Abfluss und kippt den Rest Wasser ins Becken. Er benetzt sich das Gesicht mit Wasser und schüttelt sich, weil es so kalt ist. Er knetet ein kleines Stück Seife zu Schaum, den er auf Wangen, Hals, Kinn und Oberlippe aufträgt. Er setzt die Rasierklinge an, zieht sie mit regelmäßigem Scharren über die Haut und betrachtet mit schmalen Augen sein Werk. Als er fertig ist, wäscht er sich noch einmal das Gesicht und trocknet sich mit einem kratzigen Handtuch ab. Er bläst die Kerze aus und ist überrascht, als das Licht nicht erlischt. Erst da fällt ihm auf, dass es wieder Strom gibt, und er lächelt beinahe über seine Begriffsstutzigkeit, bevor ihm klar wird, was das bedeutet. Er hat sich an eine Welt gewöhnt, in der man sich bei Kerzenschein mit Seife und kaltem Wasser rasiert. Es ist normal geworden.
    Dennoch, es gibt Strom, und weil das nicht normal ist, stürmt er aus dem Badezimmer, um seine Frau und die Kinder zu wecken. Er stellt sich ein auf dem Herd zubereitetes Frühstück vor, Fernsehen neben einem warmen Radiator, Lachen und lärmende Aufregung. Doch als er das Bad verlässt, hört er ein verräterisches Schnappen, und als er zurückblickt, ist das Licht aus. Er probiert die Flurlampe, und seine Vermutung bestätigt sich. Er kehrt in die Küche zurück. Es gibt keinen Grund mehr, seine Familie zu wecken.
    Er setzt sich an den Tisch und überprüft sämtliche Plastikbehälter, die er mitnehmen will. Er sucht nach Sprüngen, die sie womöglich bekommen haben, seit sie zum letzten Mal geleert wurden, überzeugt
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