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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo
Autoren: Steven Galloway
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dem Ausland die Scheidungspapiere geschickt haben, und er weiß nicht, ob er das verkraften könnte. Er ist vierundsechzig Jahre alt, und auch wenn sie nicht die perfekte Ehe führten, hatten er und seine Frau ein angenehmes Leben, obwohl sie sechs Jahre jünger war als er und schon vierzig, als sie ihren Sohn Davor bekam. Sie hatten gedacht, sie könnten keine Kinder kriegen.
    Er hofft, dass seine Frau und sein Sohn glücklich sind, wo immer sie auch sein mögen. Er ist froh, dass sie sich nicht die Wohnung seiner Schwester teilen müssen. Dragan und sein Schwager sind noch nie gut miteinander ausgekommen, und es wird zwar keiner je zugeben, aber beiden wäre es lieber, wenn sie sich nicht so oft sehen würden. Durch das Brot, das Dragan mit nach Hause bringt, ist er jedoch unentbehrlich, und er wiederum sitzt dort fest, weil sie ihm ein Dach über dem Kopf gegeben haben.
    Die Bäckerei ist nicht weit vom Haus seiner Schwester entfernt, nur etwa drei Kilometer. Unter normalen Umständen wären es zu Fuß etwa fünfundvierzig Minuten. Heutzutage allerdings dauert es anderthalb Stunden, wenn er sich beeilt. Heute ist er hauptsächlich deshalb unterwegs, weil er draußen sein will, und er lässt sich Zeit. Er ist fast den ganzen Weg über langsam gelaufen, mit Ausnahme des Stücks, wo sich die Hauptstraße mit der Vrbanja-Brücke kreuzt, eine besonders gefährliche Stelle. Dort rennt er über die Straße, so schnell er kann, und versucht nicht daran zu denken, ob ihn jemand im Visier hat oder nicht.
    Er ist auf der Hauptstraße, dort, wo früher die Straßenbahn fuhr. Auf der Südseite der Straße sind stellenweise hohe Barrieren aufgetürmt, die Autos und Fußgänger vor den Bergen im Süden abschirmen sollen, aber es gibt noch viele Abschnitte, die von den Heckenschützen bestrichen werden können. Er hat gehört, dass Ausländer diese Straße »Sniper Alley« nennen, die Heckenschützenallee, und er hat darüber gelacht, weil man seiner Meinung nach jede Straße in Sarajevo so nennen könnte. Verdienen die Straßen, die an den Ufern der Miljacka verlaufen, nicht ebenfalls diesen Namen? Was ist mit ganz Dobrinja oder Mojmilo? Es wäre einfacher, wenn man jede Straße in der Stadt als »Sniper Alley« bezeichnen und dafür einer, die durch irgendeine große Tat unerreichbar für die Männer auf den Bergen wäre, einen besonderen Namen geben würde. Aber natürlich ist das hier die Straße, auf der die Ausländer fahren müssen, um vom Flughafen zum Holiday Inn zu gelangen, daher muss sie ihnen besonders gefährlich vorkommen. Dennoch findet Dragan, dass man eine sechsspurige Straße mit einem Mittelstreifen für die Straßenbahn schwerlich als Allee bezeichnen kann.
    Er biegt nach Norden ab und verlässt die Hauptstraße, die, wenn er darauf bliebe, für seinen Geschmack zu nahe an feindliches Gebiet führen würde. Dieser Teil der Straße wird zwar von den Verteidigern schwer bewacht, aber das hat bislang noch keinen Heckenschützen aufhalten können, und er bildet sich nicht ein, dass sich heute einer davon aufhalten lässt.
    Er stößt auf eine andere größere Straße, die bevorzugte Strecke für viele Menschen, die durch die ganze Stadt laufen wollen. Als er zwischen der Marschall-Tito-Kaserne und dem Energoinvest-Gebäude, beide fast völlig zerstört, zu einer weiteren großen Kreuzung kommt, bereitet er sich darauf vor zu rennen. Dies ist eine der gefährlichsten Kreuzungen in der Stadt. Nur vierhundert Meter weiter südlich befindet sich die Brücke der Brüderlichkeit und Einheit, die das rechte Ufer der Stadt vom besetzten Grbavica trennt.
    Links von ihm säumen acht Güterwaggons, jeweils zwei übereinandergetürmt, die Straße. Rechts von ihm sind die Bahngleise. Auf der anderen Straßenseite befindet sich das Energoinvest-Gebäude. Vor ein paar Jahren noch war es das größte Bürohochhaus der Stadt. Jetzt ist es eine Ruine, in Trümmer geschossen. Rundum ist alles sonderbar grau. Er weiß nicht genau, woher das kommt, ob es schon immer so war und der Krieg lediglich die Farbe weggewaschen hat, die es verbarg, oder ob dieses Grau die Farbe des Krieges ist. Jedenfalls wirkt dadurch die ganze Straße düster und trostlos.
    Etwa zwanzig Menschen warten an der Kreuzung. Einige treten auf die Straße und rennen los, als ob eine Regenwolke über ihnen hinge und sie nicht nasser als nötig werden wollten. Für diese Leute scheint das fast zur Gewohnheit geworden zu sein. So jedenfalls kommt es Dragan vor.
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