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Der Brenner und der liebe Gott

Der Brenner und der liebe Gott

Titel: Der Brenner und der liebe Gott
Autoren: Wolf Haas
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aufregen, ich muss es ja nicht zahlen, und für das Klima bin ich schon zu alt.
     
    Jetzt ist das Blut so durch den Halsschlauch in seinen Kopf hinaufgeschossen, dass sein ganzer Kopf gepocht hat wie einmal, wo er beim Jimi-Hendrix-Konzert in Stuttgart sein Ohr an die Bassbox gehalten hat. Weil da sind sie 1969 zu siebt mit der Ente vom Leitner nach Stuttgart gefahren, und zurück eigentlich zu acht, weil die Freundin vom Leitner war auf der Rückfahrt schon schwanger, aber sie hat dann allen gesagt, es ist nicht vom Hendrix, sondern vom Helmut Köglberger.
     
    Das Hämmern in seinem Kopf war so laut, dass er den Lastwagen, der auf der Straße gerade vorbeigedonnert ist, nicht einmal gehört hat. Und ich glaube ja bis heute, dass ihm das sein Leben gerettet hat. Weil er hat den Lastwagen erst gesehen, wie er schon vorbei war, sprich zu spät, um sich vor die Räder zu werfen. Und vielleicht ist durch das viele Blut, das ihm in den Kopf geschossen ist, auch mehr von der Tablette in sein Hirn gekommen. Weil jetzt schon wieder Strohhalm, jetzt schon wieder Hoffnungsschimmer, jetzt schon wieder Silberstreif, sprich: Vielleicht täusche ich mich. Nur weil ich aus fünf Meter Entfernung noch keinen Helenakopf durch die Heckscheibe sehe, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr im Auto ist.
     
    Vielleicht ist sie nur eingeschlafen und im Kindersitz ein bisschen zusammengesunken, und deshalb sehe ich sie nicht, hat der Herr Simon sich gesagt. War natürlich ein vollkommener Blödsinn, weil er hat genau gewusst, dass er das Kind von hier aus sehen müsste. So kann ein Kind gar nicht zusammensinken, wenn es im Kindersitz korrekt angeschnallt ist, und der Herr Simon hat die Helena keinen Meter gefahren, ohne sie vorschriftsmäßig anzuschnallen, das kann man ihm wirklich nicht vorwerfen.
     
    Aber nach dem nächsten Schritt Richtung BMW hat das viele Blut in seinem Kopf schon den nächsten Strohhalm angeschwemmt. Wer weiß, vielleicht ist es nur eine Spiegelung in der Heckscheibe. Heute gibt es ja überhaupt schon so viele Autos, wo man gar nicht durch die Heckscheibe sieht. Und jetzt hat er wirklich etwas gesehen, ihm ist vorgekommen, die Helena hat sich im Kindersitz umgedreht und starrt ihn leichenblass mit zu Tode erschreckten Augen an, aber es war nur die Spiegelung von seinem eigenen Gesicht, und die Panik in diesen Augen hat den Herrn Simon so entstellt, dass er sich fast selber nicht erkannt hätte. Jetzt mit Gewalt noch einen Schritt, und noch einen Schritt, aber aus zwei Schritt Entfernung ist immer noch nichts von der Helena zu sehen gewesen. Und wie er schon direkt neben dem Auto war, immer noch nichts von der Helena zu sehen, nicht einmal durch die Seitenscheibe. Und wie er es endlich geschafft hat, mit seinen zittrigen Fingern den kleinen Fernbedienungsknopf auf dem Autoschlüssel zu treffen, hat es nichts genützt.
     
    Er hat immer wieder gedrückt, aber nur die Türen haben sich mit diesem verfluchten Geräusch aufgesperrt und zugesperrt und aufgesperrt und zugesperrt. Einmal würde ich das gern verstehen, wie diese Fernbedienungen wirklich funktionieren, weil Wunderwelt der Technik. Den Herrn Simon haben solche Sachen weniger interessiert, der hat nie so den Sinn für die Technik gehabt, das hat man ihm ja früher bei der Polizei immer zum Vorwurf gemacht. Eher ist bei ihm noch ein gewisses Interesse erwacht, seit er Chauffeur war, weil da hat er sich schon ein paar Mal darüber gefreut, dass er in einem Zeitalter lebt, wo es Sachen gibt, die sich früher niemand erträumt hätte, zum Beispiel ein Auto aus der Entfernung aufsperren wie ein Zauberer. Aber jetzt hat er einsehen müssen, dass er eben doch keinen richtigen Zauberschlüssel in der Hand gehalten hat, weil er hat drücken können und er hat wünschen können, so oft er wollte, er hat tausendmal verriegeln und entriegeln können, und er hat damit nur dieses klopfende Geräusch erzeugt, wie der reinste Trauermarsch-Trommler, der den Hinterbliebenen beim Begräbnis die Tränen aus den Augen treibt, aber das kleine Mädchen, das die Frau Doktor in seine Obhut gegeben hat, ist dadurch nicht wieder aufgetaucht.
     
    Aber interessant. In diesem Moment muss er einen kompletten Filmriss gehabt haben. Weil er hat sich später nie mehr daran erinnert, wie er rund um die Tankstelle gerannt ist. Er hat sich nicht erinnert, wie er durch die Waschanlage gerannt ist. Er hat sich nicht erinnert, wie er zur Ausfahrt gestolpert und die Straße auf und ab
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