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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall
Autoren: Jeanine Krock
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voraussagte. Irritiert sah sie sich um, aber niemand folgte ihr. Mit jedem Schritt wurde das Gefühl intensiver. Wie die Wellen eines Ozeans rollten dunkle Ahnungen ans Ufer ihres Bewusstseins und kündeten eine aufziehende Sturmflut an. Die schmale Seitenstraße, die sie in diesem Augenblick passierte, kam wie gerufen. Sie verschwand darin und vermied auf ihrem Weg die wenigen Lichtkegel aus altersschwachen Laternen. An einem besonders schlecht beleuchteten Haus probierte sie die Türklinke. Nichts tat sich. Die Tür war verriegelt und mit einem großen Vorhängeschloss zusätzlich gesichert. Wahrscheinlich um Clochards oder jugendliche Vandalen fernzuhalten. Von den einstmaligen Mietern wohnte keiner mehr hinter den blinden Fensterscheiben, ein Schild kündigte bereits den Neubau eines modernen Apartmenthauses an, und die schweren Maschinen bewiesen, dass es bald mit dem Abriss losgehen würde. Auch gut , dachte Vivianne und vergewisserte sich schnell, dass es keine Zeugen für das geben würde, was sie plante. Ein gewaltsames Eindringen kam nicht in Frage. Es würde zu viel Lärm machen, und sie konnte nicht mit Sicherheit ausschließen, dass eine Alarmanlage installiert war. Sie zog ihre High Heels aus und steckte sie zusammen mit ihrer Jacke in ihre Handtasche, die sie quer über den Rücken trug. Welch ein Glück, dass sie darauf verzichtet hatte, eines ihrer Originalkleider aus den zwanziger Jahren zur heutigen Party zu tragen. Vivianne rieb die Hände aneinander und lockerte sie anschließend, als wolle sie ein kompliziertes Klavierstück spielen. Stattdessen stieg sie schneller als jeder geübte Fassadenkletterer in die Höhe, indem sie sich an Fenstersimsen und Balkonvorsprüngen festhielt und dabei mittels Magie so gut es ging ihre schmale Gestalt vor den Blicken eines möglichen Beobachters verbarg. Der Nagellack war zwar endgültig ruiniert, als sie sich über die Regenrinne auf das Dach zog, aber stolz sah sie von dort oben in die Tiefe. Niemand hatte ihre Kletterei bemerkt. Das beunruhigende Gefühl, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, bevor etwas Schreckliches in ihrem Zuhause passierte, erlaubte nicht, weiter den durchaus angebrachten Stolz zu genießen. Eilig ließ sie ihren Blick über die Häuser der Stadt gleiten, um den kürzesten Weg zu ihrer eigenen Wohnung zu finden. Anfangs beunruhigte sie die Entfernung zwischen den Dächern, doch nach ein paar gelungenen Sprüngen begann sie, diese Art der Fortbewegung zu mögen. Lautlos rannte sie auf bloßen Füßen einen Sims entlang, der hier glücklicherweise breit genug war und zudem von einem hüfthohen Gitter gesichert wurde. Sie stieg über das Gitter, sah kurz zum Dach des gegenüberliegenden Hauses und sprang. Schon während des Fluges erkannte Vivianne, dass sie sich diesmal wirklich verschätzt hatte. Ihre Füße verfehlten den Sims knapp, sie rutschte und fand auch keinen Halt an der Dachkante, die von einem glitschigen Belag überzogen war. Vivianne bereitete sich gedanklich schon auf den Sturz vor, der ihr bei dieser Höhe sehr wahrscheinlich ein paar verstauchte Gelenke einbrächte. Nichts, was nicht binnen eines Tages heilte, aber schmerzhaft würde es trotzdem werden. Doch ihr freier Fall endete viel schneller als erwartet auf einem Balkon.
    «Was ...?», hörte sie eine Männerstimme, und schon spürte sie Hände um ihre Taille, die ihr auf die Beine halfen. «Bist du verrückt geworden?» Der Mann sah sie genauer an. «Da laus mich doch der Affe! Wenn ich eher gewusst hätte, was für ein süßer Käfer in der Mansarde wohnt ...»
    Vivianne wartete nicht ab, was er weiter zu sagen hatte. Sie sprang auf die Balustrade, stützte sich an seiner Schulter ab und zog sich mit Schwung über die Regenrinne.
    «Das glaubt mir kein Mensch!», staunte der Mann. Er sollte recht behalten.
    Etwas vorsichtiger sprang sie auf das nächstgelegene Dach. Vivianne, bleib, wo du bist , warnte Nabrah.
    Auf ihrem Hausdach angekommen, lauschte sie. Nichts. Der Vogel schien ebenfalls verschwunden zu sein oder er hatte sie bewusst aus seinen Gedanken verbannt. Egal. Einem Schatten gleich glitt sie durch eine Gaube, schlich die Stiege hinab und machte auf dem ersten Absatz halt. Wieder konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung, aber hier oben gab es nichts zu sehen und verdächtige Geräusche waren auch nicht zu hören. Immerhin erfuhr sie, dass jemand in einer der Modelwohnungen geräuschvoll schlief und alle anderen menschenleer waren. Gut. Vivianne
bewegte
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