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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher
Autoren: Stefan Wolf
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Kniebeugen. Und schon sind die Kalorien
verbraucht.“
    Klößchens freundliches
Mondgesicht wurde blaß unter den Sommersprossen.
    „4000? Nur? Reichen nicht auch
3800? Dann wäre ich noch vor Mitternacht fertig — falls mir nicht vorher die
Beine abbrechen! Aber nein! Ich mache doch lieber 4000. Dann habe ich eine
Tafel gut. Und die esse ich jetzt gleich.“
    „Untersteh’ dich! Ich stopf’
sie dir in die Ohren. Übrigens habe ich den Meinert nach der Fürstin von
Brabant gefragt. Kennt er nicht. Auch in den Lexika steht nichts.“
    „Mann o Mann! Dann hat Volkers
Mutter alles erfunden.“
    Volker Krause war ihr
Klassenkamerad. Ein sogenannter Externer, der bei seinen Eltern in der Stadt
wohnte und jeden Morgen in die Schule kam. Die 9 b machte er zum zweiten Mal —
aber trotz der „Ehrenrunde“ stand er in den meisten Fächern zwischen vier und fünf.
Dabei war er intelligent und auch ein prima Kerl, aber er hatte einfach zu
nichts Lust. Er ließ alles schleifen, starrte in letzter Zeit nur noch
trübsinnig vor sich hin und konnte manchmal, wenn er sich gepiesackt fühlte,
richtig unangenehm werden. Und was er da auf der Eisenbahnbrücke getrieben
hatte, dieser Volker, das war doch sehr komisch. Tarzan machte sich Sorgen um
seinen Freund.
    „Ich glaube, es ist ihm
peinlich“, sagte Tarzan.
    „Peinlich? Was?“
    „Daß seine Mutter so spinnt.“
    „Aber er verteidigt sie doch.
Wenn man nur ein bißchen grinst, wird er gleich fuchsteufelswild.“
    „Eben drum“, meinte Tarzan. „Er
verträgt nicht die leiseste Anspielung. Dabei hat keiner was gegen seine Mutter
gesagt.“
    „Ist ja auch besser.“
    Tarzan nickte. „Eine seltsame
Familie. Der Vater ist der größte Bauunternehmer der Stadt, schuftet wie ein
Pferd und ist nie zu Hause. Die Mutter macht ihren Hokuspokus mit
Geisterbeschwörung, Wiedergeburt und Seelenwanderung. Und Volker gammelt.
Findest du nicht auch: Die drei passen nicht zusammen.“
    „Keiner kann sich seine Familie
aussuchen“, erwiderte Klößchen weise. „Und wenn du genau hinguckst — mein Vater
hat’s als Schokoladenfabrikant zum Millionär gebracht. Und er sagt: Die
Schokolade ist meine Lebensaufgabe — obwohl er nicht ein Stück davon ißt. Meine
Mutter hat’s mit ihrer Diät. Sie erfindet Rezepte für Brennesselsoßen und
Sauerampfer-Püree. Außerdem leidet sie darunter, daß mein Vater — wie sie meint
— mit seiner Schokolade die Menschheit vergiftet. Na, und ich. Ich bin im
Internat, weil’s mich zu Hause so langweilt.“
    „Aber ihr versteht euch prima!“
    Klößchen nickte heftig. „Ich
wollte doch nur sagen: Wir sind alle verschieden, aber wir haben uns lieb. Bei
den Krauses sind auch alle verschieden. Vielleicht verstehen sie sich
trotzdem.“
    „Hoffentlich. Ich wünsche es
Volker. Übrigens glaube ich nicht, daß er krank ist. Der hat heute nur gefehlt,
weil er die Mathe-Arbeit schwänzen wollte.“
    Klößchen verzog das Gesicht.
„Kann ich verstehen. Au Backe! Von fünf Aufgaben habe ich eine gelöst. Du
kriegst sicher wieder einen Einser. Deine Begabung möchte ich haben. Aber bei
mir purzeln die Zahlen durcheinander, wenn ich nur ein bißchen nachdenke.“
    „Dafür habe ich gestern die
Französisch-Arbeit verhauen. Bestimmt ‘ne glatte Fünf. Naja, nächsten Sommer
will meine Mutter sowieso mit mir nach Rimini fahren. Und in Italien nützt mir
Französisch überhaupt nichts.“
    „Bis zu den Sommerferien kannst
du dich auf eine Eins hocharbeiten“, sagte Klößchen betrübt. „Ich werde
wahrscheinlich nur mein Gewicht hocharbeiten. Hach! Ist das schrecklich, wenn
man so verschleckt ist!“
    „Erwarte nicht, daß ich dich
bedauere“, meinte Tarzan und ließ sich aufs Bett sinken. Für einen Moment
eilten seine Gedanken nach Hause. Weit entfernt war das.
    Vier Stunden mußte er mit der
Bahn fahren. Aber das Geld dafür hatte seine Mutter nur selten.
    Sein Vater, ein
Diplom-Ingenieur, war vor sechs Jahren tödlich verunglückt. Damit hatte sich
alles geändert. Vor allem für seine Mutter. Sie mußte wieder arbeiten gehen,
als Buchhalterin, und sie sparte sich jeden Pfennig vom Mund ab, um das
Schulgeld aufzubringen. Trotzdem hatte sie die beste Schule für ihren Sohn
ausgesucht. Tarzan wußte das. Ohne ein Streber zu sein, tat er alles, um
voranzukommen.
    Wie sehr er an seiner Mutter hing
— daran durfte er manchmal gar nicht denken. Sonst hätte er sich sofort auf
sein Rennrad geschwungen und wäre die endlose Strecke zu ihr geradelt.
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