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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher
Autoren: Stefan Wolf
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Am
traurigsten war es an den sogenannten Urlaubs-Wochenenden. Dann fuhren die
anderen Heimschüler für zwei Tage nach Hause. Tarzan blieb meistens hier, weil
das Fahrgeld zu teuer war. Nur die langen Briefe an seine Mutter trösteten ein
bißchen. Sie antwortete mit noch längeren Briefen, und manchmal rief sie auch
an.
    Klößchen — der hatte es
bequemer. Sein Elternhaus war hier — im vornehmsten Viertel der Stadt. So oft
er wollte, konnte er seine Eltern besuchen. Das tat er auch. Aber nur im
Internat fühlte er sich wohl. Weil, wie er sagte, hier immer was los sei.
    Als Tarzan jetzt in Schuhe und
Windjacke schlüpfte, hob Klößchen den Kopf.
    „Fährst du in die Stadt?“
    „Du fährst auch.“
    „Ich? Wieso?“
    „Mann, Willi Sauerlich! Wir
sind mit Gaby und Karl verabredet. Fürs Hallenbad. Auf, auf! Keine Müdigkeit
vorschützen!“
    „Hätte ich doch glatt
vergessen.“
    Klößchen klatschte sich die
flache Hand vor die Stirn. Daß seine Finger voller Schokolade waren, merkte er
zu spät.
     
     
     

3.
Der Hundefloh
     
    Sie radelten rasch. Jede Minute
der Freizeit war kostbar. Kühler Wind blies über die Felder. Klößchen schwitzte
trotzdem. Als sie die Stadt erreichten, schoben sich graue Wolken vor die
Sonne.
    Sie waren bei Gaby Glockner
verabredet. Meistens trafen sie sich dort: Tarzan, Klößchen, Karl und Gaby. Sie
waren das Abenteuer-Quartett. Die Unzertrennlichen. Die verschworene
Gemeinschaft.
    Daran mußte Tarzan jetzt
denken, als sie in die schmale Straße einbogen. Vielleicht, überlegte er, hält
unsere Freundschaft ein Leben lang.
    Alte Häuser standen hier. In
einem war ein Lebensmittelgeschäft, ein kleiner Laden. Er gehörte Gabys Mutter.
Der Vater war Kriminalkommissar.
    Tarzan klingelte.
    Über dem Laden wurde ein
Fenster geöffnet, und Oskars Kopf erschien.
    Oskar ließ die Zunge
heraushängen, hechelte, erkannte Tarzan und begann vor Freude zu bellen.

    Denn Oskar war ein Hund, ein
schlappohriger Cocker-Spaniel, überwiegend weiß, aber mit schwarzen Flecken und
einem braunen Punkt auf der Nase.
    „Hallo, Oskar!“ rief Tarzan.
„Hat dir dein Frauchen beigebracht, wie man Fenster aufmacht?“
    „Macht er das nicht gut!“ Jetzt
tauchte auch Gaby auf. Sie hatte Oskar am Halsband gehalten. „Außerdem bringe
ich ihm Klavierspielen bei — mit der Tonleiter klappt es schon,“ lachte Gaby.
    „Reicht es denn nicht, wenn er
singt, während du klimperst. Es hat den Vorteil, daß man dann nicht mehr soviel
von dir hört. Aber ich weiß, was du vorhast. Vierhändig willst du mit ihm
spielen. Bei jedem falschen Ton ist er’s dann gewesen. Schäm’ dich, Gaby! Du
bist wirklich kein Tierfreund.“
    Gaby lachte, daß ihre weißen
Zähne blitzten. Klößchen patschte sich auf die Schenkel.
    „Gaby — und kein Tierfreund“,
keuchte er. „Das... ist das beste. So kommt’s raus. Sie hat sich die ganze Zeit
verstellt. Herrlich! Ausgerechnet Gaby!“
    Gaby schloß das Fenster, kam
herunter und ließ die beiden ein.
    Das Mädchen hatte langes,
blondes Haar, das manchmal wie Seide knisterte, und tiefblaue Augen mit dunklen
Wimpern. Als Rückenschwimmerin hatte sie schon viele Preise gewonnen. Ihr Vater,
der aus Liebhaberei den Schwimmclub NEPTUNIA als Trainer betreute, nahm sie
dreimal in der Woche hart ran. In Französisch war Gaby die beste. Manchmal
sprach sie sogar mit Oskar französisch. Tarzan mochte Gaby sehr. Für sie würde
er sich zerreißen lassen. Aber das gab er natürlich nicht zu. Trotzdem wurde er
manchmal ganz verlegen, wenn sie ihn mit ihren strahlenden blauen Augen ansah.
In der Schule gab es viele Jungs, die sie für das hübscheste Mädchen der Stadt
hielten. Dieser Meinung war Tarzan auch.
    „Mit dem Hallenbad wird’s heute
nichts“, sagte Gaby, als die drei die Treppe hinaufstiegen.
    „Wieso?“ fragte Klößchen. „Ist
kein Wasser drin?“
    „Vorhin hat mein Vater
angerufen“, erwiderte Gaby. „Er bittet uns, daß wir hier auf ihn warten. Es
wäre sehr wichtig. Er hätte was Dienstliches mit uns zu besprechen.“
    „Was Dienstliches?“ fragte
Tarzan verblüfft. Immerhin war Gabys Vater Kriminalkommissar.
    „O weh!“ meinte Klößchen. „Ich
ahne was. Wir sind zu schnell gefahren. Vorhin — als es bergauf ging, hatte ich
mit meinem Rad 120 Sachen drauf. Man darf aber nur 80. Ich muß mich endlich mal
zügeln.“
    „Und sicherlich“, sagte Gaby,
die Klößchens Unsportlichkeit kannte, „hast du Tarzan noch geschoben.“
    „Geschoben? Getragen
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