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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher
Autoren: Stefan Wolf
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zwar nur Edith...
Verzeihung, Herr Doktor, aber ich möchte den Familiennamen nicht nennen. Es
handelt sich um die Mutter eines Mitschülers und... und... Jedenfalls ist sie
überzeugt, daß sie vor 500 Jahren als Editha undsoweiter gelebt hat. Darüber
erzählt sie uns die tollsten Geschichten. Leider wird sie sofort böse, wenn man
die Sache bezweifelt.“
    Meinert zog ein rotkariertes
Taschentuch hervor und schneuzte sich. „Aha. Hm. Naja. Weißt du, Tarzan,
Wiedergeburten sind zur Zeit sehr modern. Immer mehr Leute behaupten von sich,
sie hätten in den interessantesten Epochen unserer Vergangenheit gelebt.
Solange die Leute nichts Böses tun, soll man sie gewähren lassen. Ich
jedenfalls bin mir ziemlich sicher, daß ich kein römischer Gladiator, kein
Neandertaler und auch kein Landsknecht im Dreißigjährigen Krieg war.“
    Tarzan lächelte verschmitzt.
„Vielleicht waren Sie ein römischer Geschichtsschreiber, Herr Doktor. Oder
Kopernikus. Das paßt besser zu Ihnen.“
    Meinert lachte. „Jetzt reicht’s
aber, du Schlingel. In der nächsten Geschichtsstunde werde ich dich über
Kopernikus prüfen. Wer war das, he?“
    „Ein Astronom“, kam es wie aus
der Pistole geschossen. Aber das war alles, was Tarzan im Moment dazu einfiel.
Deshalb verabschiedete er sich eiligst.
    Als er durch den Flur ging,
dachte er: Komisch, daß manche Leute mit ihrem Namen nicht zufrieden sind. Und
nicht mit dem, was sie darstellen. Sie heißt nun mal Edith Krause und ist die
Frau eines reichen Bauunternehmers. Aber sie träumt davon, sie wäre die Fürstin
Editha. Am liebsten hätte sie’s, man würde sie so anreden. Himmel, so ein
Blödsinn! Mir ist es egal, ob man mich Tarzan nennt oder Peter.
    Peter Carsten — das war sein
richtiger Name. Den Spitznamen Tarzan hatte er weg, weil er mit affenartiger
Geschwindigkeit am Kletterseil hochturnen konnte. Außerdem — weil er dunkle
Locken hatte und immer gebräunt war. Für seine 13 Jahre war er groß. Er besaß
blaue Augen, harte Muskeln und war der beste Sportler seines Jahrgangs. Vor
allem in Judo, beim Volleyball und im Sprint.
    Tarzan verließ das Nebengebäude
und ging über den Hof. Es war ein kühler Herbsttag, aber sonnig und klar.
Morgens lag Reif auf den Wiesen. Die Bäume im Park hatten das bunte Laub
abgeworfen. Abends wurde es oft so dunstig, daß man selbst aus dem zweiten
Stock die Stadt nicht mehr sah. Dabei lag die Internats-Schule nur etwa 20
Trablauf-Minuten von den letzten Häusern entfernt.
    Es war eine Großstadt. Mit
Flughafen, U-Bahn und Sportstadion. Eine Zubringerstraße, die durch Felder und
Wiesen führte, verband Schule und Stadt. Nur Jungs wohnten im Internat, aber
die Klassen waren gemischt — drei, vier Mädchen in jeder. Die Mädchen kamen
morgens mit dem Schulbus aus der Stadt — manche auch auf Rädern, jedenfalls im
Sommer.
    Tarzan betrat das Haupthaus und
stieg in den zweiten Stock hoch, wo die Schlafräume lagen. Jede Bude hatte
einen Namen. Tarzan wohnte im ADLERNEST. Der Raum war klein, aber sehr hübsch.
Platz bot er nur für zwei Betten. Aber belegt war das ADLERNEST, wie Dr.
Meinert mal scherzhaft gesagt hatte, mit zweieinhalb Personen.
    Diese anderthalbfache Person
wurde Klößchen genannt.
    Tarzan trat ein, schlüpfte aus
den Turnschuhen und hockte sich im Schneidersitz auf sein Bett.

    Bewundernd sah Klößchen ihn an.
„Du bist vielleicht gelenkig, Tarzan. Wenn ich nur versuche, mich so
hinzusetzen, platzt mir die Hose.“
    „Du sprichst so undeutlich,
Willi. Hast du etwa was im Mund?“
    „Nur meine Zunge“, sagte
Klößchen und schluckte krampfhaft. Aber drei Rippen Schokolade lassen sich
nicht auf einmal runterwürgen. Willi Sauerlich, genannt Klößchen, lief rot an.
Da er faul auf dem Rücken lag, hätte er sich beinahe verschluckt. Er mußte sich
aufrichten.
    Tarzan sagte: „Es ist zum
Heulen. Mit meiner Hilfe hast du nun endlich ein Kilo abtrainiert. Geschworen
hast du, täglich höchstens eine Tafel Schokolade zu essen. Aber gestern waren
es drei; heute werden es fünf, und morgen platzt du. Vor einer halben Stunde
haben wir zu Mittag gegessen. Du hattest zwei Teller Suppe und drei Portionen
Dampfnudeln. Und jetzt... Mal ehrlich: Wieviel hast du eben verputzt?“
    Klößchen zögerte. Eine halbe
Tafel hätte er gern unterschlagen. Aber Tarzan war sein bester Freund. Den
wollte er nie beschwindeln.
    „Also... naja... Zweieinhalb
Tafeln waren es.“
    „Das kriegen wir schnell wieder
hin, Willi. Du machst jetzt 4000
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