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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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untergetaucht und hätte die Augen aufgerissen. Tobias schlug erneut die Lider auf. Nichts.
    Das dunkle Loch um ihn herum war noch sehr viel undurchdringlicher als der Wald, der das Ferienlager umgeben hatte, in das sie im letzten Sommer mit der Klasse gefahren waren. Anders als am Postfenn gab es hier weder Mondlicht noch den Schein der Taschenlampen, in dem sie während der Schnitzeljagd mitten durch den Grunewald den Forstweg nach Briefchen abgesucht hatten. Hier roch es nicht nach Erde, Laub und Wildschweinscheiße, und Lea, die alte Heulsuse, hielt weder seine Hand noch zuckte sie bei jedem Rascheln und Knacken zusammen. Wobei es hier auch gar keine Geräusche gab, die seiner Zwillingsschwester hätten Angst einjagen können. Hier, wo immer hier sein mochte, gab es ... nichts.
    Nichts, außer seiner grenzenlosen Angst, gelähmt zu sein. Denn obwohl er wusste, dass Dunkelheit keine Arme hatte (so wie er von Dr. Hartmann, seinem Kunstlehrer, wusste, dass Schwarz keine Farbe war, sondern einfach nur das Fehlen von Licht), fühlte er sich von dem Schwarz fest im Klammergriff gepackt.
    Noch immer wusste er nicht, ob er stand oder lag. Womöglich hing er sogar kopfüber, was den Druck unter der Stirn erklären würde und weshalb er sich so triselig fühlte. Oder duhn, wie sein Vater immer sagte, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam und Mama befahl, ihm eine Badewanne einzulassen.
    Toby hatte sich nie getraut zu fragen, was duhn eigentlich bedeutete. Papa mochte es nicht, wenn seine Kinder zu viel wissen wollten. Diese Lektion hatte er im Urlaub gelernt. Vor zwei Jahren, in Italien, als er es beim Abendessen gewagt hatte, noch einmal nachzufragen, ob caldo wirklich kalt heißt. Papa hatte ihn ermahnt, endlich mit seiner bescheuerten Fragerei aufzuhören, und bestimmt hätte ihn Mamas Blick warnen sollen, die Italienischkenntnisse seines Vaters besser nicht in Frage zu stellen. Doch er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass dann wohl jeder Wasserhahn im Hotel kaputt sein müsse, weil aus denen mit der Aufschrift caldo nur warmes Wasser käme. Papa war die Hand ausgerutscht. Nach jener Ohrfeige im Restaurant hatte er aufgehört, zu viele Fragen zu stellen, was sich jetzt verdammt noch mal als beschissener Fehler erwies. Nun wusste er nicht, was duhn hieß, er hatte keine Ahnung, weshalb ihm so übel war und er sich nicht mehr bewegen konnte. Füße und Kopf schienen in einer Schraubzwinge zu stecken, und die Arme spürte er gar nicht mehr. Nein, falsch. Er spürte sie nur noch bis zu den Schultern und vielleicht noch etwas darunter, wo es auf einmal so entsetzlich kribbelte, als spielte sein bester Freund Kevin mit ihm »Tausend Stecknadeln«. Kevin, dieser Angeber, der eigentlich Konrad hieß, doch jedem Prügel androhte, der ihn mit diesem »Schwulinamen« anredete. Kevin, Konrad, Kackarsch .
    Alles unterhalb der Ellbogen, also das, was normalerweise doch immer links und rechts von ihm lag, baumelte oder hing, seine Unterarme, die Handgelenke, die Hände (Scheiße, wo sind meine Hände?) - all das war verschwunden.
    Er wollte schreien, doch sein Mund war zu trocken, wie überhaupt der gesamte Rachen. Alles, was er herausbrachte, war ein armseliges Krächzen.
    Warum habe ich keine Schmerzen? Wieso schwimme ich nicht in Blut, wenn meine Hände abgeschnitten sind? Amputiert oder wie das heißt. Scheiße, hab ich auch nicht gefunden.
    Ein abgestandener Duft drang in Tobys Nase, süßlich wie ranzige Butter, nur lange nicht so intensiv. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass die Schraubzwinge, in der er lag, von Wänden umgeben sein musste, die ihm seinen schlechten Atem ins Gesicht zurückwarfen. Noch länger dauerte es, bis er zu seiner grenzenlosen Erleichterung seine Hände wiederfand. Direkt unter seinem Rücken. Ich bin gefesselt. Nein, falsch. Ich bin eingeklemmt. Jetzt überschlugen sich seine Gedanken. Auf jeden Fall liege ich auf meinen Armen drauf. Fieberhaft dachte er nach, was er zuletzt gemacht hatte, bevor er hier hereingekommen war. Hier in dieses Nichts. Doch in seinem Kopf schwappte nur eine Schmerzwelle umher, die sein Gedächtnis weggespült zu haben schien.
    Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass sie abends im Wohnzimmer Tennis gespielt hatten mit diesem bescheuerten Computerspiel, bei dem man wie blöde vor dem Fernseher rumhüpfen musste und bei dem Lea immer gewann. Dann hatte Mama sie zu Bett gebracht. Und jetzt war er hier. Hier, in diesem Nichts.
    Toby schluckte, und auf
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