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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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schlug ich vor. Mein Abstand zu ihr betrug jetzt höchstens noch zehn Meter. »Hans?« Sie löste einen Arm von dem Bündel und öffnete die Wickeldecke. Erleichtert hörte ich, wie das Baby anfing zu plärren.
    »Hans klingt schön«, sagte Angelique selbstvergessen. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und stand nun nicht mehr so nah an dem Geländer. »Wie >Hans im Glück<.« »Ja«, pflichtete ich ihr bei und setzte vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorne. Neun Meter.
    »Oder wie der Hans aus dem anderen Märchen.«
    Sie drehte sich zu mir und sah mich fragend an. »Welches andere Märchen?«
    »Na das von der Nymphe Undine.«
    Um genau zu sein, war das eher eine germanische Sage als ein Märchen, aber das war im Augenblick irrelevant. »Undine?« Sie zog die Mundwinkel herab. »Kenn ich nicht.«
    »Nein? Ach, dann muss ich es Ihnen erzählen. Es ist wunderschön.«
    »Was haben Sie vor? Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt?«, schrie der Einsatzleiter in meinem rechten Ohr, was ich ignorierte.
    Acht Meter. Schritt für Schritt arbeitete ich mich in ihren Strafraum vor.
    »Undine war ein gottgleiches Wesen, eine Nymphe, so wunderschön wie keine Zweite. Sie verliebte sich unsterblich in den Ritter Hans.« »Hörst du, mein Süßer? Du bist ein Ritter!«
    Das Baby quittierte das mit einem lauten Schrei. Es atmete also noch. Gott sei Dank.
    »Ja, aber der Ritter war so schön, dass ihm alle Frauen hinterherliefen«, fuhr ich fort. »Und leider verliebte er sich in eine andere Frau und verließ Undine.« Sieben Meter.
    Ich wartete, bis ich das Baby wieder plärren hörte, dann fuhr ich fort. »Darüber war Undines Vater, der Meeresgott Poseidon, so erzürnt, dass er Hans verfluchte.« »Ein Fluch?« Angelique hielt in ihrer Wiegebewegung inne. »Ja. Fortan konnte Hans nicht mehr unbewusst von alleine atmen. Er musste sich darauf konzentrieren.« Ich sog geräuschvoll die kalte Luft in meine Lungen und stieß sie beim Sprechen stoßweise wieder aus. »Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.« Mein Brustkorb hob und senkte sich demonstrativ.
    »Würde Hans nur ein einziges Mal nicht daran denken zu atmen, müsste er sterben.« Sechs Meter.
    »Wie endet das Märchen?«, fragte Angelique misstrauisch, als ich mich bis auf eine Autolänge vorgetastet hatte. Dabei schien ihr jedoch weniger meine Nähe als die Wendung zu missfallen, die das Märchen genommen hatte.
    »Hans tut alles, um nicht einzuschlafen. Er kämpft gegen die Müdigkeit an, aber am Ende fallen ihm doch die Augen zu.«
    »Er stirbt?«, fragte sie tonlos. Jede Freude war aus dem ausgezehrten Gesicht gewichen.
    »Ja. Denn im Schlaf wird er unweigerlich vergessen zu atmen. Und das bedeutet seinen Tod.«
    In meinem Ohr knackte es, doch dieses eine Mal hielt der Einsatzleiter den Mund. Hier draußen war nun nichts zu hören außer dem entfernten Rauschen des Stadtverkehrs. Ein Schwarm schwarzer Vögel zog hoch über unseren Köpfen Richtung Osten.
    »Das ist aber kein schönes Märchen.« Angelique wankte etwas nach vorne, wiegte jetzt mit dem gesamten Körper das eng an sie gepresste Baby. »Nicht schön.« Ich streckte ihr die Hand entgegen und kam noch näher. »Nein, ist es nicht. Und eigentlich ist es auch gar kein Märchen!« »Sondern?«
    Ich machte eine Pause, wartete wieder darauf, dass ich irgendein Lebenszeichen des Kleinen hörte. Doch da war nichts mehr. Nur Stille. Mein Mund war wie ausgedörrt, als ich es ihr sagte. »Es ist die Wahrheit.« »Die Wahrheit?«
    Sie schüttelte energisch den Kopf, als ahne sie bereits, was ich jetzt sagen wollte.
    »Angelique, hören Sie mir bitte zu. Das Baby in Ihren Händen leidet am Undine-Syndrom, einer Krankheit, benannt nach dem Märchen, das ich Ihnen eben erzählt habe.« »Nein!« Doch.
    Die Tragik war, dass ich ihr keine taktische Lüge auftischte. Das Undine-Syndrom ist eine seltene Störung des zentralen Nervensystems, bei der die betroffenen Kinder ersticken, wenn sie sich nicht willentlich auf ihre Atmung konzentrieren. Eine schwere, lebensgefährliche Krankheit. Bei Tim (so hieß der Säugling wirklich) reichte die Atemaktivität in seinen Wachphasen noch aus, um den kleinen Körper mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Nur wenn er schlief, musste er beatmet werden.
    »Es ist mein Kind«, protestierte Angelique wieder mit ihrer Schlafliedstimme. Schlaf, Kindlein, schlaf .
    »Sehen Sie nur, wie friedlich es in meinen Armen schlummert.«
    O Gott, nein. Sie hatte recht. Das Baby gab keinen
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