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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Patienten sind meine Kumpel«-Lächeln. Dann fiel ihr Blick auf unser Gepäck. »So viel dieses Jahr?«
    Ich nickte geistesabwesend, weil ich meine Brieftasche immer noch nicht gefunden hatte.
    Bitte nicht! Alle Ausweise, Kreditkarten, sogar die KeyCard, ohne die ich nicht in das Großraumbüro komme. Ich erinnerte mich daran, dass ich sie gestern vor dem Getränkeautomaten der Redaktion noch gehabt hatte. Ich hätte schwören können, sie wieder zurück in meine Jackentasche gesteckt zu haben. Doch jetzt war sie verschwunden.
    »Ja, es wird jedes Jahr mehr Spielzeug«, murmelte ich und ärgerte mich im gleichen Moment, dass ich so schuldbe-wsst klang. Es mochte auf den ersten Blick dem typischen Trennungsklischee entsprechen, aber tatsächlich hatte ich meinem Sohn schon immer gerne Geschenke gekauft. Wobei ein geschnitzter Holztraktor natürlich pädagogisch wertvoller gewesen wäre als die im Dunkeln leuchtende Wasserpistole, die die Schwester gerade aus der Ikea-Tüte zog. Aber »pädagogisch wertvoll« war ein Argument, mit dem mich schon meine Eltern zur Genüge gequält hatten, die es partout nicht hatten einsehen wollen, weshalb ich einen Walkman oder ein BMX-Rad brauchte, nur weil alle meine Freunde damit herumfuhren. Nennen Sie mich oberflächlich, aber meinem Sohn wollte ich dieses Außenseiterschicksal ersparen, was nicht bedeutete, dass ich ihm jeden Mist kaufte, nur damit er dazugehörte. Aber ich schickte ihn auch nicht mit leeren Händen in den darwinistischen Überlebenskampf, wie er Tag für Tag auf den Schulhöfen aufs Neue ausgefochten wird.
    Moni hatte sich mittlerweile zu einer Spiderman-Puppe vorgetastet. »Ich finde es echt bewundernswert, dass du dich von all den tollen Sachen trennen willst«, sagte sie und lächelte meinen Sohn an.
    »Kein Problem«, grinste Julian zurück. »Mach ich gerne.« Womit er die Wahrheit sagte. Es war zwar meine Idee gewesen, einmal im Jahr sein Zimmer auszumisten, bevor es zum Geburtstag Spielzeugnachschub gab. Aber er war sofort darauf eingegangen.
    »Wir schaffen Platz und tun was Gutes!«, hatte er meine Worte wiederholt und sich sofort ans Werk gemacht. Und so war unser »Sonnenschein-Tag« entstanden, wie wir ihn nannten. Der Tag, an dem Vater und Sohn sich aufmachten, das ausrangierte Spielzeug in das Kinderhospiz zu schleppen und es hier unter den kleinen Patienten zu verteilen.
    »Die ist sicher was für Tim«, sagte die Schwester lächelnd und legte die Spiderman-Puppe zurück zu den anderen Spielsachen. Dann verabschiedete sie sich und zog weiter. Ich sah ihr nach und merkte zu meiner Bestürzung, dass es mir nur mit Mühe gelungen war, meine Tränen zurückzuhalten.
    »Alles okay?«, fragte Julian und sah mich an. Er war es schon gewohnt, dass sich sein Vater zu einer Heulsuse entwickelte, sobald er die Sonnenschein-Station in der zweiten Etage betrat. Er selbst hatte hier noch nie geweint.
    Wahrscheinlich, weil der Tod für ihn noch so weit weg und unvorstellbar war. Doch für mich war das Sterbehospiz für schwerstkranke Kinder eine kaum zu ertragende Umgebung. Man hätte vielleicht annehmen können, dass jemand, der schon einmal einen Menschen erschossen hatte, etwas abgestumpft wäre - zumal ich seit meiner Suspendierung vom Polizeidienst mein Geld als Polizeireporter verdienen musste. Seit vier Jahren arbeitete ich für die größte und damit blutrünstigste Zeitung der Stadt und hatte mir als Journalist mit meiner Berichterstattung über die grausamsten Gewaltverbrechen Deutschlands mittlerweile sogar so etwas wie einen Namen gemacht. Doch je mehr ich über die schrecklichsten Grausamkeiten dieser Welt schrieb, desto weniger war ich bereit, den Tod zu akzeptieren. Schon gar nicht, wenn es sich um den Tod unschuldiger Kinder handelte, die an Leukämie, Herzversagen oder dem Undine-Syndrom litten. Tim!
    »So hieß doch der Junge, den du damals gerettet hast, oder?«
    Ich nickte und gab es endgültig auf, nach meinem Portemonnaie zu suchen. Wenn ich Glück hatte, lag es auf dem Sitz meines Volvos, aber höchstwahrscheinlich hatte ich es irgendwo verloren.
    »Ganz genau. Aber das ist er nicht. Er trägt nur den gleichen Namen.«
    Der Tim, dessen Entführerin ich erschossen hatte, schrieb mir regelmäßig Weihnachtskarten. Solche von der Sorte, zu denen Eltern einen zwingen: in krakeliger Handschrift mit Worten, die kein Kind freiwillig in den Mund nehmen würde. Karten, die man sich an den Kühlschrank klebt und dort so lange nicht beachtet, bis sie
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