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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Ton mehr von sich.
    Der Vater hüt die Schaf.
    »Ja, es ist Ihr Baby, Angelique«, sagte ich eindringlich und näherte mich einen weiteren Meter. »Das bestreitet niemand. Aber es darf nicht einschlafen, hören Sie? Sonst stirbt es, so wie der Hans im Märchen.« »Nein, nein, nein!« Sie schüttelte trotzig den Kopf. »Mein Baby ist nicht böse gewesen. Es wurde nicht verflucht.« »Nein, das wurde es ganz sicher nicht. Aber es ist krank. Geben Sie ihn mir bitte, damit die Ärzte Ihren Jungen wieder gesund machen können.«
    Jetzt war ich so nah bei ihr, dass ich den süßlich-ranzigen Duft ihrer ungewaschenen Haare roch. Den Geruch der geistigen und körperlichen Verwahrlosung, der jede Faser ihres billigen Jogginganzugs durchtränkte. Sie drehte sich zu mir, und zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf das Baby werfen. Auf sein leicht gerötetes, auf sein winziges ... auf sein schlafendes Gesicht. Erschrocken sah ich zu Angelique. Und da setzte es bei mir aus. »Scheiße, nein, tun Sie das nicht!«, brüllte die Stimme des Einsatzleiters in meinem Ohr, die ich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr hörte. »Runter damit. Runter!« Diese und die folgenden Sätze entnahm ich später dem Einsatzprotokoll, das mir der Leiter der Untersuchungskommission vorlegte.
    Heute, sieben Jahre nach dem Tag, der mein Leben zerstörte, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte.
    Es.
    Dieses Etwas in ihrem Blick. Den Ausdruck reinster, völlig verzweifelter Selbsterkenntnis. Aber damals war ich mir sicher.
    Nennen Sie es Vorahnung, Intuition, Hellsichtigkeit. Es ist, was es ist, und ich spürte es mit all meinen Sinnen: In der Sekunde, in der sich Angelique zu mir drehte, war ihr ihre psychische Störung bewusst geworden. Sie hatte sich selbst erkannt. Wusste, dass sie krank war. Dass ihr das Baby nicht gehörte. Und dass ich es ihr niemals wieder zurückgeben würde, sobald ich es erst in meinen Händen hielt.
    »Hören Sie auf. Machen Sie keinen Scheiß, Mann.« Ich hatte genügend Erfahrung durch mein Boxtraining, um zu wissen, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man seine Bewegungen im Voraus erahnen will. Auf seine Schultern! Und Angeliques Schultern bewegten sich in eine Richtung, die nur eine einzige Interpretation zuließ, zumal sie jetzt langsam die Arme öffnete. Drei Meter. Nur noch drei verdammte Meter. Sie wollte das Baby von der Brücke schleudern. »Waffe fallen lassen. Ich wiederhole: Waffe sofort fallen lassen.«
    Und deshalb achtete ich nicht auf die Stimme in meinem Kopf, sondern richtete die Pistole direkt auf ihre Stirn. Und schoss.
    Meist ist das der Moment, in dem ich schreiend aufwache und mich für eine Sekunde freue, dass das alles nur ein Alptraum gewesen ist. Bis ich die Hand ausstrecke und auf der Betthälfte neben mir ins Leere taste. Bis mir einfällt, dass diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Sie sorgten dafür, dass ich meinen Job, meine Familie und die Fähigkeit verlor, eine Nacht durchzuschlafen, ohne von den Alpträumen geweckt zu werden.
    Seit jenem Schuss lebe ich in Angst. Eine klare, kalte und alles durchdringende Angst; das Konzentrat, aus dem sich meine Träume speisen.
    Damals auf der Brücke habe ich einen Menschen getötet. Und sosehr ich es mir auch einrede, dass ich eine andere Seele dafür retten konnte, so sicher bin ich mir, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Denn was, wenn ich mich damals geirrt habe? Was, wenn Angelique niemals vorgehabt hatte, dem Baby etwas anzutun? Vielleicht hatte sie die Arme nur geöffnet, um mir das Kind zu reichen? In der Sekunde, in der das Geschoss, das ich auf sie feuerte, ihren Schädel durchdrang. So schnell, dass ihr Gehirn nicht einmal mehr einen Impuls senden konnte, die Arme noch weiter zu lockern. So schnell, dass ich das Baby auffangen konnte, bevor es ihr aus den toten Händen glitt. Was also, wenn ich damals auf der Brücke einen unschuldigen Menschen getötet habe?
    Dann, so viel war sicher, würde ich eines Tages für meinen Fehler bezahlen müssen.
    Das wusste ich. Mir war nur nicht klar gewesen, dass dieser Tag so bald kommen würde.
     

83. Kapitel
    Und wieder besuchte ich mit meinem Sohn diesen Ort, von dem es hieß, es gäbe für ein Kind in Berlin keinen besseren zum Sterben.
    »Wirklich? Der Helikopter?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn auf den geöffneten Pappkarton, den ich den langen Flur hinuntertrug. »Hast du dir das gut überlegt? Immerhin ist es ein Captain-Jack-Heli
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