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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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jetzt tot auf dem Rasen lag.«
    Julian!
    »Lebte er noch?«
    Ein Schwarm schwarzer Vögel stob auf, als ich den Toyota direkt in der Zufahrt parkte.
    Bitte nicht, lieber Gott, bitte nicht. Lass das heute nicht der Tag sein, an dem ich für meinen Fehler auf der Brücke bezahle.
    Ich sprang aus dem Wagen, biss mir auf die Hand, um nicht gleich loszuschreien, und verlor das Gleichgewicht. Hier draußen am Stadtrand waren die Temperaturen kälter, und der Schnee blieb länger liegen. Ich rutschte aus, die Beine knickten auf dem glatten Kiesweg um, und in der Sekunde, in der ich hinschlug, zerbrach etwas in mir, was sich nie wieder kitten lassen würde.
    Ich kroch auf allen vieren weiter, richtete mich dann auf, rannte zum Garten an der großen Linde vorbei, an der ich irgendwann mal eine Schaukel hatte aufhängen wollen, und stolperte auf den Rasen. »Nicci!«, schrie ich laut, riss den Kopf in den Nacken und brach endgültig zusammen. Nicci!
    Ich brüllte den Namen immer wieder und immer lauter, doch ihre gebrochenen Augen wollten nicht blinzeln. Ihr Mund sich nie wieder öffnen.
    In dieser Sekunde wollte ich ebenso tot sein wie sie und hasste mich dafür, dass ich noch lebte. Ich hasste mich für mein Leben, das ein einziger Fehler war, für den meine Frau sterben musste und für den mein Sohn jetzt qualvoll büßen würde ... »Herr im Himmel, Julian!«
    Ich sah zu dem Schuppen. Der Holzriegel war lose. Die Tür stand weit offen.
    »Ich brachte den Kleinen zu einem Auto, das hinter dem Zaun am Waldrand parkte. Ich glaube, es war frühmorgens, kurz nach Sonnenaufgang. Plötzlich war alles wieder dunkel, und ich dachte schon, die Vision wäre vorbei. Dann gingen zwei rote Lichter im Kofferraum des Wagens an, in den ich den Jungen legte.«
    Ich schlug mir gegen den Kopf, als wollte ich mir die bittere Wahrheit aus dem Schädel prügeln. »Ich weiß noch, dass wir eine Weile bergauf gefahren sind, es gab mehrere Kurven, doch dann stoppte der Wagen wieder, und ich stieg aus.« »Was haben Sie dann getan?«
    »Gar nichts. Ich stand einfach nur da und habe zugesehen.«
    »Zugesehen?«
    »Ja. Auf einmal lag etwas Schweres in meinen Händen.« Einst, vor langer Zeit, als Julian noch ein Baby gewesen war und ich mir nichts anderes hatte vorstellen können, als ein guter Vater zu sein, hatte ich an dieser Stelle mit ihm gesessen, an der mich jetzt mein seelischer Schmerz zerriss.
    Ich hatte seinen schlafenden Kopf an meine Brust gepresst; mit sanftem Griff, um zu verhindern, dass er zur Seite sank, fast so, wie ich jetzt Niccis toten Körper hielt. Was hatten wir damals für Träume gehabt? Welche Pläne hatten unsere kleine Familie einst zusammengehalten? Und wie schnell war es mir gelungen, alles zu zerstören. Ich löste die Stoppuhr aus Niccis kalten Fingern und stand auf.
    Alt hatten wir werden wollen, hier am Fuße des Rudower Dörferblicks, dem sechsundachtzig Meter hohen Aussichtspunkt am Rande Berlins, von dem man an sonnigen Tagen einen perfekten Rundblick gleich über drei Dörfer hatte. Über Bohnsdorf, Schönefeld und Waßmannsdorf. Und natürlich über unser eigenes Grundstück. Ich sah hinab auf den toten Körper meiner ermordeten Frau und dann hinauf, hoch zu der Spitze des begrünten Trümmerbergs, an dessen Fuß all unsere Hoffnungen erst geboren und dann auf ewig zerplatzt waren, und war mir nicht sicher, ob mich die Tränen in den Augen täuschten. Oder ob ich dort oben wirklich einen Mann erkannte, dessen Fernglas sich in der kalten Wintersonne spiegelte.
Letzter Brief des Augensammlers, zugestellt via E-Mail über einen anonymen Account
    An: [email protected] Betreff: Letzte Worte
    Sehr geehrte Frau Bergdorf,
    ich denke, das wird für eine lange Zeit die letzte Mail sein, die Sie von mir erhalten. Ich hoffe, Sie registrieren, dass meine Anrede Ihnen gegenüber respektvoller gewählt ist als in den Briefen zuvor, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob Sie mir den gleichen Respekt in Ihrer zukünftigen Berichterstattung zollen werden.
    Vermutlich halten Sie mich trotz der Befreiung der Zwillinge immer noch für das Ungeheuer, das seinen Spitznamen verdient. Dabei ist es nicht so, als hätten mich die Bilder, die sich mir durch mein Fernglas boten, völlig unberührt gelassen. Als ich Zorbachs Zusammenbruch von meinem Standpunkt auf dem Hügel aus beobachtete, verspürte ich eine tiefe innere Traurigkeit.
    Alexander Zorbach, einen mir so lieben und vertrauten Menschen, in diesem Zustand zu sehen -
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