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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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und atmete keuchend in den feuchten Schotter unter meinem Gesicht. Ich wollte mich übergeben, als mir die wahre Bedeutung meiner Erkenntnis bewusst wurde. Es wird alles erst passieren.
    Das Grauen lag noch vor mir. Alina hatte niemals in die Vergangenheit geblickt. Immer nur in die Zukunft! »Geh auf gar keinen Fall in den Keller. Hörst du mich?«, schrie ich entsetzt in den Hörer und rappelte mich wieder hoch.
    Der Ausgang? Wo ist mein Auto? »Geh nicht in den Keller«, wiederholte ich. Es war Wahnsinn, aber wenn meine schlimmsten Vermutungen sich bewahrheiten sollten, dann musste ich mich an das Drehbuch des Augensammlers halten, aus dem Alina mir schon vor Stunden vorgelesen hatte. Nur dass ich, anders als in Alinas Vision, um jeden Preis mit meiner Warnung zu Nicci durchdringen musste, wenn sie überleben sollte.
    »Geh nicht in den Keller!«
    Ich strauchelte, die Beine knickten unter mir weg, und doch durfte ich nicht aufgeben. Musste mich gegen das Unvermeidliche stemmen, das ich die ganze Zeit direkt vor Augen gehabt und doch nie gesehen hatte. Selbst dann, als Nicci den letzten Satz ihres Lebens sagte: »Schatz, du machst mir Angst.«
    Danach hörte ich die Kampfgeräusche. Ein Mann hinter der Kellertür. Er fällt sie an. Bricht ihr das Genick. Schleift sie in den Garten ... Die Geräusche passten zu dem Szenario, das Alina mir beschrieben hatte.
    Ich begann zu schreien, als mir einfiel, dass auf Niccis Grundstück eine Holzlaube stand.

1. Kapitel
Alexander Zorbach (Ich)
     
    Später (sehr viel später) sollte ich mich in den wenigen kurzen Momenten fragen, in denen der Cocktail aus Antidepressiva und Beruhigungsmitteln mir einen zusammenhängenden Gedanken erlaubte, wie ich den tödlichen Irrtum so lange hatte übersehen können. Alina hatte noch nie zuvor mit jemandem ausführlich über ihre Gabe geredet. Hätte sie es getan, unter weniger chaotischen Umständen, wäre ihr vielleicht schon sehr viel früher aufgefallen, dass nicht ein einziges Detail der Visionen zwingend bewies, dass sie sich an die Vergangenheit erinnerte. Schon ihre erste Vision, der Unfall mit dem betrunkenen Autofahrer: Sie meinte, sich selbst auf dem Asphalt liegen zu sehen, aber wieso sollte Alina das letzte Mädchen gewesen sein, das der Trinker angefahren hatte? Und der zudringliche Student, dem sie auf den Kopf zusagte, dass er seine Schwester schändete? Hier war es sogar aktenkundig! Der Student hatte es mindestens noch ein Mal getan, bevor er sich das Leben nahm, und vermutlich war es diese zukünftige Vergewaltigung, die Alina gesehen hatte, und nicht eine bereits vergangene. Blind. Wir waren so blind.
    Die Fahrt von der Grünauer Straße zum Rudower Dörferblick dauert normalerweise eine Viertelstunde. Ich schaffte sie in zehn Minuten und kam dennoch eine Ewigkeit zu spät.
    »Dann brach ich ihr das Genick. Es gab ein Geräusch, als hätte ich ein rohes Ei zerdrückt. Sie war sofort tot.«
    Die Sätze, die Alina mir gestern bereits gesagt hatte, wanderten wie ein billiger Stereoeffekt in meinem Kopf von einem Ohr zum anderen. Ich hieb mir gegen den Schädel, stellte das Radio an, drehte es so laut es nur ging und konnte die Erinnerung an unsere erste Unterhaltung auf dem Hausboot nicht übertönen. »Was haben Sie mit der Leiche getan?« »Ich zerrte sie an dem Kabel nach draußen ... durch das Wohnzimmer zu einer Terrassentür und schleifte sie in den Garten ... In der Nähe des Zauns, etwas abseits von einem kleinen Schuppen, ließ ich sie schließlich liegen.« Ich betete wieder zu einem Gott, an den ich nicht mehr glauben wollte, flehte ihn an, er möge mich als Narr entlarven - niemand kann in die Zukunft sehen, das ist unmöglich -, wenn ich in wenigen Sekunden in die Straße bog, in der ich zwölf Jahre meines Lebens mit Nicci verbracht hatte.
    Hätte sich in diesem Augenblick die Straße vor mir geteilt und das Auto verschluckt, hätte ich gelassener reagiert. Wahrscheinlich hätte ich mich sogar gefreut, denn dann wäre mir meine Zukunft erspart geblieben. »Was geschah als Nächstes?«, hörte ich meine eigene Stimme in der Erinnerung fragen.
    »Sie meinen, nachdem ich der toten Frau die Stoppuhr in die Hand gedrückt hatte?«
    Ich drückte aufs Gas. Schoss auf das Haus am Ende der Straße zu.
    »Ich ging zu dem Geräteschuppen . Er war aus Holz, nicht aus Metall... Das gekrümmte Bündel auf dem Boden sah aus wie ein alter Teppich, doch es war ein weiterer Körper. Etwas kleiner und leichter als die Frau, die
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