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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler
Autoren: Sebastian Fitzek
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Augensammler war, dem wir seine Opfer in letzter Sekunde entrissen hatten. Denn es gab in diesem Moment keine Vergangenheit; keine Zukunft. Nur noch Gegenwart. Eine Gegenwart, in der Alina eine ungeschickte Bewegung machte, die alles veränderte. Sie stolperte.
    Ihr Fuß hatte sich in einer Verstrebung der tragbaren Liege verfangen, als sie zu mir nach draußen eilen wollte. Sie taumelte und versuchte instinktiv, sich abzustützen, konnte aber natürlich den Haltegriff nicht sehen, der an der Wand neben dem Medikamentenschrank angebracht war. Infolgedessen glitt ihre Hand hilflos nach unten, riss einen Defibrillator zu Boden und traf direkt auf die harte Metallkante einer Ablagefläche.
    Das Lachen wich ihr aus dem Gesicht, dann trieb ihr der Schmerz neue Tränen in die Augen.
    »Deine Hand!«, brüllte ich, als könnte ich damit irgendetwas ungeschehen machen, und sprang die Treppe hoch.
    Deine linke, verbrannte Hand.
    Sie hatte ihr gesamtes Körpergewicht darauf gestützt. Die Metallkante musste sich durch den Verband hindurch in ihr Fleisch gedrückt haben.
    »Ist schon gut«, stöhnte sie, als ich mich zu ihr niederkniete. Sie biss die Zähne zusammen.
    »Alles kein Problem.« Ein dünner Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn. Der Schmerz schien noch anzuhalten, als ich sie in die Arme schloss. Drückte. Mich abermals wie ein Ertrinkender an sie klammerte und sie nie wieder loslassen wollte. »Alles ist gut!«, hörte ich sie noch sagen. Sie wollte es noch einmal wiederholen, aber es gelang ihr nicht mehr. Und ich hätte es ihr auch nicht mehr geglaubt.
    Denn während meine Arme sich fester um sie schlossen, wurde ihr Widerstand immer stärker. Es fühlte sich an, als hätte mit einem Mal das Blut in ihren Adern aufgehört zu fließen, und ich würde kein lebendiges Wesen, sondern eine Marmorstatue halten, als sie leise sagte: »Ich habe was gespürt!« Nein!
    Ich schloss die Augen.
    »Es ist nicht die Berührung allein ... Ich erinnere mich nur unter Schmerzen.«
    Meine Beine zitterten, als ich von ihr zurückwich. »Was?«
    »Dein Telefon!«
    Ich sah nach oben, zu dem Kleiderhaken, an dem der Rettungsassistent Alinas Cordjacke befestigt hatte. Das Summen wurde von Mal zu Mal lauter. »Was ist damit?«, fragte ich und stand auf. »Nicht rangehen«, krächzte Alina und vergrub weinend das Gesicht in den Händen. »Bitte, geh nicht ran.«
     

2. Kapitel
    Zyniker sagen, das Sterben beginne mit der Geburt. Wie jede polarisierende These enthält auch diese drastische Aussage ein Fünkchen Wahrheit. Jeder Mensch erreicht irgendwann einen Punkt, in dem sein Leben endet und das Sterben beginnt. Eine unendlich kleine, aber messbare, logische Sekunde, in der wir eine unsichtbare Grenze überschreiten, die den Wendepunkt unseres Daseins markiert. Hinter der Grenze liegt dann all das, was wir einst als Zukunft betrachtet haben. Und vor uns ist nur noch der Tod. Bei den meisten Menschen findet sich dieser Scheidepunkt irgendwo auf dem letzten Viertel ihrer Lebenslinie. Andere, die beispielsweise an einer tödlichen Krankheit leiden, stoßen vielleicht schon zur Halbzeit an diese Grenze. Kaum jemand überschreitet sie wissentlich. Nur wenige Menschen können sagen, wann ihre Lebensphase endet und das Sterben beginnt. So wie ich. Ich kann es Ihnen ganz genau sagen.
    Bei mir begann das Sterben in der Sekunde, in der ich im Rettungswagen das Handy an mein Ohr hielt und die nervös lachende Stimme meiner Frau hörte: »Sorry, aber ich bin ein bisschen durcheinander. Ich spiele gerade Verstecken mit unserem Sohn. Und weißt du, was völlig verrückt ist? Ich kann ihn nirgends mehr finden.« Wumm.
    Tief im Innersten meiner Seele war eine Tür zugefallen, die all das, wofür ich jemals gelebt hatte, für immer wegschloss.
    O Gott, dachte ich und sagte es laut. »O Gott!«
    Alles um mich herum begann sich zu drehen, während ich wie betäubt aus dem Rettungswagen taumelte. »Wie konnte ich nur so blind sein?«
    All die ungeklärten Fragen. All die offenen Antworten. Jetzt ergab alles einen schrecklichen, einen grauenhaften Sinn.
    »Es ist alles zu spät«, krächzte ich weinend in den Hörer, gelähmt von der Erkenntnis, dass wir die gesamte Zeit in die falsche Richtung geschaut hatten. Rückwärts, nach hinten.
    Dabei konnte Alina nicht in die Vergangenheit sehen. Hatte es nie gekonnt. Alles, was sie mir erzählt hatte, war niemals geschehen. Noch nicht.
    Mittlerweile war auch ich gestolpert, lag auf den Knien vor dem Rettungswagen
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