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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit
Autoren: Leif Davidsen
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immer noch so.«
    Er fuhr auf englisch fort: »A fucking mistake, Peter. Help me, please. A fucking mistake!«
    Er zeigte keine Reue. Für ihn war alles nur ein Irrtum. Ein beklagenswerter Irrtum. Wie ein schlecht verlaufenes Geschäft.
    Beklagenswert, aber es mußte ja weitergehen. Er war gefühlskälter und amoralischer, als ich es mir vorgestellt hatte.
    Ich hatte kein Recht, ihn zu verurteilen, aber Oscar, mein Freund, war außerstande, etwas für andere zu fühlen. Mein Zorn löste sich auf. Eigentlich hatte ich Mitleid mit ihm, aber nun war es zu spät.
    Langsam ging ich rückwärts zum Ufer zurück, während vor mir das Eis immer weiter aufbrach. Oscar schaute mir nach.
    »A fucking mistake, Lime«, sagte er und verschwand in dem Loch unterm Eis, die Strömung riß ihn mit, und ich sah ihn nicht wieder hochkommen.
    Ich erreichte das Ufer und versuchte, mich zu orientieren. Die Kälte biß mir in die Wangen, die Nase, die Hände. Der Wald sah unwegsam und dunkel aus. Ich dachte, wenn ich dem Flußbett folgte, würde ich irgendwann auf eine Ortschaft oder eine Straße stoßen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich gehen mußte und ob nach rechts oder nach links. Ich entschied mich für die linke Richtung und begann im Schneesturm denselben Weg einzuschlagen, den nun auch Oscars Leiche unter Schnee und Eis nahm. Mir war äußerlich und innerlich kalt. Ich war gedankenleer und hatte keine Empfindung für Zeit und Ort, und Igor sagte später, ich hätte sehr abwesend und etwas überrascht gewirkt, als er mich fand. Als ob ich schlafwandelte. Ich hatte das Stadium erreicht, in dem man sich bereit macht, sich in den Wald zu legen und zugedeckt vom Schnee einzuschlafen.
     
    25
    Ich rief Clara aus Moskau an. Nach dem dritten Klingeln antwortete sie. Sie klang außer Atem, und ihre Stimme drang über den Satelliten ein wenig metallisch zu mir herüber.
    »Ich bin’s, Clara«, sagte ich.
    »Oh, Peter. Schön, dich zu hören. Geht’s dir gut? Wo bist du?«
    »In Moskau. Ich fliege heute abend nach Hause.«
    »Ist alles in Ordnung?«
    Sie hatte es im Blut. Sie wollte am Telefon nichts Direktes sagen.
    »Alles in Ordnung. Es gibt nichts mehr darüber zu sagen. Die Sache ist beendet.«
    »Auf eine Art, mit der du leben kannst?«
    »Vielleicht nicht immer. Es wird Alpträume geben, Dinge, die ich bereue, aber ich kann damit leben. Muß ich ja. Besonders, wenn du mein Leben teilen willst. Komm nach Madrid.«
    »Warum, Peter?«
    »Ich brauche jemanden, der mein Stativ trägt.«
    Sie lachte.
    »Warum, Peter? Sag es jetzt.«
    »Ich brauche dich.«
    »Das war ein Fortschritt«, sagte sie.
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Vielleicht. Aber manchmal ist es gut, es auszusprechen.«
    »Kommst du?« fragte ich fast flehentlich, und es bedeutete eine Überwindung für mich.
    »Wovon soll ich leben?«
     
    »Ich schwimme im Geld.«
    »Jetzt sei mal vernünftig. Was soll ich da machen?«
    »Mein Stativ tragen.«
    Sie lachte wieder, aber ich hörte die Unsicherheit in ihrem Lachen. Ich spürte, daß sie ebenso unsicher war wie ich, aber daß ich im Vorteil war. Daß ich den kleineren Einsatz auf den Spieltisch legte. Die Leitung rauschte. Diese moderne Technik, mit der das Satellitensystem des Hotels das Signal lausende von Kilometern in den Weltraum hinaus sandte und dann wieder zu Clara hinunter. Wir hatten zweitausend Kilometer zwischen uns, aber unsere Stimmen machten eine Reise von vierzigtausend.
    Ich schwieg und ließ eine Minute in dem schwachen Rauschen verrinnen. Wie üblich sah es aus, als wären sämtliche Einwohner Moskaus unterwegs, als ich auf den Platz tief unter mir blickte. Es war Tauwetter, alles schwappte und quatschte.
    Drüben auf der anderen Seite sah ich die größten und mörderischsten Eiszapfen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Fußgänger in Moskau lebten auf vielerlei Weise gefährlich. Ich sehnte mich nach Madrid und meinem Haus.
    Dann sagte Clara endlich: »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich es wage. Ich denke an die zarten Flügel.«
    »Du hast selbst gesagt, die erste Verbrennung ist die schlimmste.«
    »Ich kann dir keine Antwort geben. Jedenfalls nicht jetzt«, sagte sie.
    »Ich brauche dich, Clara. Komm nach Madrid.«
    »Wir werden sehen. Vielleicht besuche ich dich. Vielleicht nicht. Vielleicht wäre es am besten, nicht weiterzumachen. Ich weiß es einfach nicht. Aber paß auf dich auf.«
    Ich hatte den Eindruck, sie war dem Weinen nahe, vielleicht legte sie deshalb auf. Ich wußte
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