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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit
Autoren: Leif Davidsen
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in diesem verfluchten Land, die nicht eine Geschichte vom Tod erzählen kann.«
    Er sprach wieder in seinem Oberschichtenenglisch, und doch merkte ich, wie bewegt er war. Aber ich konnte mir nicht verkneifen zu bemerken: »Ich habe was von sechsundzwanzig Millionen Toten gehört. Aber die anderen sechs Millionen haben der Genosse Stalin und seine Tschekisten auf dem Gewissen.«
     
    Schuganow drehte sich zu mir.
    »Das ist sicher richtig. Blut und Gewalt und Terror sind unser Erbe, aber der Zweite Weltkrieg ist das Einzige aus dreiundsiebzig Jahren Kommunismus, das nicht besudelt ist. Die sechs Millionen Toten sind also wie die hundert Millionen anderen, die in der furchtbaren Geschichte meines Landes allein in diesem Jahrhundert ermordet wurden, nur eine Parenthese, und wir reden nicht von ihnen. Ohnehin hat jede Familie einen Grund zu weinen. Aber es ist das Erbe der Brutalität, das wir mit uns herumschleppen. Wir rechnen nicht mit Menschenleben.
    Schauen Sie sich unser letztes Kriegsabenteuer in Tschetschenien an. Wie viele wurden dort getötet?
    Fünfzigtausend? Achtzigtausend? Hunderttausend? Keiner weiß es, und nur wenige wollen es wissen. Wir nehmen uns unserer Nächsten an. Aber zu Fremden haben wir kein Verhältnis.«
    Wir bogen nach rechts ab und fuhren an einigen großen blauen Wohnblöcken vorbei, dann verengte sich die Straße, und wir fuhren zwischen Birkenbäumen eine schmale Landstraße entlang. Ich dachte an Oscar, aber ich wollte die Begegnung verdrängen und fragte Schuganow: »Was halten Sie denn von der Wende? Dem Zusammenbruch des Kommunismus? Dem neuen Rußland?«
    Er sah mich an.
    »Das alte System ging in Konkurs. Ich habe dem Staat gedient.
    Ich habe keine Fragen gestellt. Wir stehen an einer Furt, Mr. Lime. Wir leben in einer raubkapitalistischen Gesellschaft, in der die Duma und der Kreml von Verbrechern bevölkert sind.
    Aber das ist ein Übergang. Ich habe dem Sozialismus gedient, nicht aus besonderer Überzeugung, sondern weil ich ein russischer Patriot bin. Das bin ich immer noch. Ich setze mich für Demokratie und Marktwirtschaft ein. Für letztere, weil sie mich reich gemacht hat. Für erstere, weil sie die Zukunft ist.
    Und wenn man Kinder hat, muß man auch an die Zukunft denken.«
     
    »Sie haben Kinder?«
    »Einen Jungen von siebzehn. Ein Mädchen von vierzehn. Der Junge ist auf einem englischen Internat. Das Mädchen geht auf eine englische Privatschule hier in Moskau. Sie sind das neue Rußland. Sie werden das Erbe der Skelette vergessen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, aber es werden die neuen Generationen sein, die Rußland aus der Finsternis befreien müssen.«
    »Was sagen die Kinder zur Arbeit des Vaters?«
    Er sah mich mit seinen kalten blauen Augen an.
    »Die Kinder wissen nichts von meiner Arbeit. Ich bin Geschäftsmann. Ich habe mein Leben lang achtzehn Stunden am Tag gearbeitet. Die längste Zeit meines Lebens gaben mir Staat und Partei ein bißchen Taschengeld und sorgfältig zugeteilte Privilegien für meinen Einsatz. Heute bekomme ich alles, was ich haben will. Ich habe eine schöne Wohnung, meine Frau kann in den neuen Supermärkten einkaufen. Wir machen Urlaub in Florida. Sie kann sich zum Anziehen kaufen, was sie will. Und dabei ist mein Leben fast so, wie es immer war. Für meinen Einsatz bekomme ich keine Orden mehr, sondern Geld. Ich habe es aufgegeben, mein Leben moralisch zu beurteilen. Mein Leben dreht sich um das Wohlbefinden meiner Familie und die Zufriedenheit meiner Kunden. Sie sind wohl kaum ein Mensch, der eine solche Haltung verurteilen wird, oder?«
    »Das würde mir niemals einfallen«, sagte ich.
    Wir fuhren schweigend weiter, und je länger sich die Straße durch den Birkenwald schlängelte, desto geringer wurde der Verkehr. So viel Schnee hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Die Straße war geräumt, aber im Wald und auf den kleinen Holzhäusern, die wir passierten, lag eine dicke Schicht.
    Am Straßenrand standen ab und zu holzgeschnitzte Bären entweder allein oder zusammen mit einem Reh. Es sah ziemlich merkwürdig aus. Von Pulverschnee bedeckte Holztiere in einer Landschaft, die man sich noch Tausende von Kilometern weit fortgesetzt vorstellen konnte.
    Wir fuhren durch ein paar kleinere Orte und kamen an einem Café und einem Gemüsemarkt vorbei. Vor dem Café parkten große Westautos, und teuer gekleidete Männer und Frauen betrachteten die Waren an den Ständen. Es schien sich um den Markt auf dem Foto zu handeln, und
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