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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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längst  wußte:  Es  gibt  keine  Zufälle.  Was  man  für  Zufall  hält,  ist  immer  eine  noch  nicht  erkannte Gesetzmäßigkeit. Sollte er der Besucherin eigentlich  sagen,  welchen  Tag  sie  sich  ausgesucht  hatte?  Das  würde  allerdings ihr Duett mit einer Schicksalswucht aufladen, der  sie, beide, nicht entsprechen konnten. In zwei Stunden wür de  sie  gehen.  Aufnichtmehrwiedersehen. Zurückbleiben wür de  die  Sonnenblume.  Er  wußte  plötzlich,  was  die  Sonnen blume  wollte.  Herrschen.  Nein,  die  wollte  nicht  herrschen,  die  herrschte.  Duldete  nichts  neben  sich.  Gottlieb  sagte:  Diese  Sonnenblume.  Und  die  Besucherin:  Ja?  Und  Gottlieb:  Unglaublich. Die Besucherin lachte laut auf. Das sei offenbar  das  Lieblingswort  in  dieser  Familie.  Gottlieb  dachte:  Die  ist  ziemlich wach. 
Warum haben Sie nicht weitergemacht, Herr Zürn? Mit La  Mettrie? Das fragte sie vorwurfsvoll. Sie wollte sich offenbar  hineinsteigern. Gottlieb kannte das. Dem anderen zuliebe so  tun, als könne man sich nicht mehr fassen vor Angetansein.  In  diesem  Fall  von  La  Mettrie  und  einem  von  La  Mettrie  heftig  belebten  Gottlieb  Zürn.  Und  dann  auf  einmal  gar  nichts  mehr.  Warumwarumwarum,  Herr  Zürn!  Sie  sah  ihn  an,  als  wisse  sie,  warum,  wolle  es  aber  von  Herrn  Zürn  hören.  Da  sie  einander  im  Namen  La  Mettries  gegenüber saßen,  konnte  das  damalige  Nichtmehrweitermachen  nur  mit Herrn Zürns Gefühlswelt zu tun haben. Und das wollte  sie  wissen.  Aus  wissenschaftlicher  Neugier.  Sie  machte  es  glaubhaft  klar.  La  Mettrie  fordert  den  ganzen  Menschen.  Wenn sie beschreiben will, warum La Mettrie in Deutschland  so zögerlich aufgenommen wurde und wird, dann kann sie  das,  sagte  sie,  am  genauesten  an  einzelnen  Erfahrungsbei spielen  darstellen.  Sie  vermute,  Resignation  sei  das  Motiv,  das  persönliche  und  das  gesamtgesellschaftliche,  also  nationale.  In  der  DDR   noch  eine  kleinmütige,  halbherzige  Pflege,  weil  La  Mettrie  viel  zu  lebendig,  viel  zu  naturtreu  und,  trotz  aller  materialistischen,  antimetaphysischen  Lei denschaft,  eben  überhaupt  nicht  klassenkämpferisch  aus  beutbar  gewesen  sei.  Und  im  Westen?  Dann,  exemplarisch,  bei Wendelin Krall alias Zürn? 
Gottlieb  hätte  ihr  sagen  müssen:  Als  es  erlosch,  das  Ga brieleGottliebFeuer, da erlosch auch − in Gottlieb − das La  MettrieFeuer.  Er  hatte  die  Nase  voll  vom  Leben  be ziehungsweise von der Natur. Er war überhaupt nicht mehr  verständnissüchtig, wißbegierig. 
Anna  hatte  nach  dem  Abschied  von  allen  möglichen  Einbildungen  ihren  Beruf  zur  Raserei  entwickelt.  Gottlieb  war einfach versunken. Senkrecht hinab. Wenn es Scheintod  gibt, muß es auch Scheinleben geben. So empfand er, dachte  er. Aber die Besucherin sprudelte. Ihr Mund wogte, als habe  er Wehen. Sie sah ihn an. Ein starker Blick, dachte Gottlieb.  Dieses  geradezu  massive  Blau.  Dieser  Blick  meinte  andau ernd  etwas.  Annas  Blick  war  die  bedeutungsabweisende  Meeresweite schlechthin. Die Augen der Besucherin lieferten  andauernd das Gefühl zu dem, was ihr Mund gerade sagte.  Der  Mund,  dieses  sich  auf  Wörter  reduzierende  Lippenge lände,  hatte  zu  kämpfen,  um  das  herauszubringen,  was  die  Augen  schon  wußten  und  ausdrückten.  Dieser  um  Sätze  kämpfende Mund sah doch wirklich aus, als habe er Wehen. 
Die  Natur  hat  uns  einzig  und  allein  dazu  geschaffen,  glücklich  zu sein; ja, uns alle − vom Wurm, der auf dem Boden dahinkriecht,  bis zu dem Adler, der sich in den Wolken verliert.  
Und wenn sie so ein Paradezitat ausgestoßen hat, wartet sie  auf  die  Wirkung.  Herr  Zürn,  Sie  sind  auf  dem  Prüfstand,  stellvertretend für Ihre Landsleute, zeigen Sie Wirkung oder  gestehen Sie, daß Sie keine mehr spüren. Daß einer kurz vor  1750  vollkommen  Schluß 
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