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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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immer wieder an Gabriele, die vor ein paar Tagen angerufen  hatte, und wie immer hatte sie gesagt: Moment, ich muß das  Fenster  schließen,  du  sprichst  so  leise.  Dann  hatten  sie  weitertelephoniert.  Mehr  als  einmal  im  Jahr  telephonierten  sie  inzwischen  nicht  mehr.  Und  jedes  Mal  war  es  Gabriele,  die anrief. Und jedes Mal hatte sie einen sogenannten Grund.  Diesmal war es ihr Entschluß gewesen, nicht mehr Gabriele  zu  heißen,  sondern  Gabriela.  Sie  könne,  hatte  sie  gesagt,  nicht  mehr  begreifen,  daß  sie  es  so  lange  ausgehalten  habe,  als  Gabriele  herumzulaufen.  Und  übermorgen  sei,  bitte,  ihr  und sein La MettrieGedenktag. 
 
Inzwischen  sind  es  fünfzehn  Jahre  her,  daß  sie  Gottliebs  Aufsatz  Vor  Rousseau  war  La  Mettrie  gelesen  hatte.  Und  nichts,  was  sie  je  gelesen  hat,  sagte  sie  jedes  Mal,  habe  ihr  Leben  so  verändert  wie  dieser  Aufsatz.  Weniger  wegen  Gottlieb  als  wegen  La  Mettrie.  Sechzehnmal  hatte  sie  ihn  damals  in  acht  Tagen  angerufen.  Die  Theologiestudentin  in  Tübingen.  Dann  folgte  Alles  eins.  Diesen  Aufsatz  hätte  er  vielleicht  gar  nicht  geschrieben  ohne  das  Zustimmungs vibrato der Theologiestudentin. 
Nur  durch  die  Natur  begreifen  wir  den  Sinn  der  Wörter  des  Evangeliums,  dessen  wahrer  Interpret  ganz  allein  die  Erfahrung  ist.  
Das  war  der  La  MettrieSatz,  der  zu  ihrem  Tag  und  Nachtgebet  wurde,  wenn  sie  neben  einander  oder  auf  ein ander  lagen,  er  zwanzig  Jahre  älter,  gerade  noch  in  Frage  kommend,  vielleicht  schon  nicht  mehr,  aber  vielleicht  doch  noch,  weil  sie  diesen  Leben  spendenden  Textstrom  hatten.  Daß  man  den  Sinn  des  Evangeliumstextes  nur  durch  die  Natur  entdecken  kann,  hatte  die  Tübinger  Theologie  noch  nicht gemerkt. 
Die  Theologie  wurde  ihr  fremd.  Also  zur  Kirchenmusik.  Das war dem Vater, Pastor auf der Ostalb, gerade noch recht.  Aber nirgends ist die Konkurrenz so brutal wie in der Musik.  Ihr Professor in Stuttgart mußte eine Psychotherapie durch laufen,  so  verletzte  es  ihn,  wenn  er  fabelhaft  und  fehlerfrei  spielende  Bewerber  ablehnen  mußte,  weil  kein  Platz  mehr  frei  war.  Aber  Gabriele  schaffte  alles.  Nur  die  Praxis  nicht.  Erstens fand sie¹s schon mal unmöglich, mit einer Begabung  Geld zu verdienen. Da wirkte die Theologin nach. Dann der  jeden  Orgelton  überflutende  Nachhall  in  den  Kirchen,  den  sie auch durch sorgsamste Belegung der Bänke mit Polstern  von  zwölf  Sekunden  nicht  weiter  als  auf  sieben  schwächen  konnte.  Schließlich  konnte  sie  Sterben  mein  Gewinn  und  dergleichen  einfach  nicht  mehr  spielen,  ohne  zu  grinsen.  Also  in  die  Politik.  Jetzt  Landtagsabgeordnete.  Verheiratet.  Geschieden. Ganz bei den Grünen. 
Anna  hatte  sich,  als  diese  Erschütterung  verebbt  war,  die  Haare, die bis auf die Schultern reichenden, so abschneiden  lassen, daß die Ohren ins Freie standen, hatte gesagt, das sei  jetzt  der  Abschied  gewesen  von  allen  möglichen  Einbildun gen.  Und  hatte  den  Umsatz  verfünffacht.  Und  hatte  ange fangen,  jeden  Abschluß  zur  theatralischen  Zeremonie  zu  machen. Sie wurde bekannt für ihre Kostümansprüche. Viel  weniger  als  ein  Hochzeitsniveau  durfte  es,  wenn¹s  zum  Notar  ging,  nicht  sein.  Sie  selber  trug  nur  noch  Anzüge.  Dunkle.  Am  liebsten  Nadelstreifen.  Und  die  Feierlichkeit  jeder Prozedur wurde mit Calvados eingesegnet. Sie glaubte  inzwischen  selber  an  die  Mär,  die  sie  verbreitete:  Bei  Calvados geschlossene Verträge halten. Ach, Anna, du liebe  Lebenslängliche.  Sie  hatten  ohne  Calvados  geheiratet.  Und  hatten doch die Zeit der Stürme überstanden. 
Aber  daß  eine  Besucherin  an  dem  Tag  auf  ihn  einredete,  den  Gabriele  zum  La  MettrieGottliebGedenktag  erhoben  hatte,  bewies  wieder,  was  er 
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