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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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könne. Arzt und Philosoph, und beides so heftig, daß daraus  notwendigerweise  ein  Drittes  hervorgehen  mußte,  nämlich  ein Mensch, der mit seinen Sinnen soviel erfuhr, daß er auch  als  Denkender  niemals  von  seinen  Erfahrungen  verlassen  wurde.  Einverstanden?  Gottlieb  hob  die  Hände,  ließ  sie  fallen,  nickte,  das  hieß,  bitte,  machen  Sie  weiter,  ich  höre  Ihnen gern zu. 
Ihr Thema sei La Mettries aufhaltsames Bekanntwerden in  Deutschland. Mit dem Satz,  die Bewegung, die die Welt erhält,  hat  sie  auch  erschaffen  können,  habe  La  Mettrie  sie  kassiert,  sagte sie. Sie soll, sie will in einer Doktorarbeit nachweisen,  warum die sonst so geistesimportfreudigen Deutschen für La  Mettrie nicht viel übrig hatten und haben. Glen O. Rosenne,  ihr  Professor,  und  der  Gründer  der  amerikanischen  La  MettrieGesellschaft,  hat  Vermutungen,  die  sie  bestätigen  soll. Tatsächlich werde La Mettrie in der deutschen Universi tätsphilosophie  am  liebsten  unter  plattem  Materialismus  geführt,  als  oberflächlich,  einseitig,  Erfinder  einer  nur  dem  Genuß  verschriebenen  Unethik!  Schon  wie  sein  wichtigster  Titel  übersetzt  wird:  Der  Mensch  eine  Maschine,  oder  neuestens:  Der  Mensch  als  Maschine.  Für  L¹Homme  Machine!  Leicht  zu  übersetzen  sei  das  nicht.  Aber  dann  soll  man¹s  doch  lieber  lassen.  Es  war  Rosenne,  der  sie  auf  Wendelin  Krall  brachte,  auf  seine  zwei  Aufsätze.  Als  sie  Vor  Rousseau  war  La  Mettrie  gelesen  hat,  hat  sie  gewußt,  daß  sie  diesen  Wendelin  Krall  einmal  sehen  möchte.  Und  dann  Alles  eins.  Da  sind  dem  Wunsch  Flügel  gewachsen.  Der  Akzente Redaktion  hat  sie  abgerungen,  wer  dieser  im  Internet  gefundene  Wendelin  Krall  wirklich  ist.  Immerhin  ist  es  fünfzehn  Jahre  her,  seit  die  zwei  Aufsätze  erschienen  sind.  Beide  im  selben  Jahr,  und  dann  nichts  mehr.  Warum  dann  nichts mehr? Das fragt auch Glen O. Rosenne. Hat Wendelin  Krall  weiter  geforscht  über  La  Mettrie  und  in  Deutschland  niemanden mehr gefunden, der sich dafür interessierte? Ihre  Arbeit wird wahrscheinlich drei Stadien beschreiben: erstens  Hegel,  zweitens  Marx  und  der  Materialismusstreit  auf  der  Göttinger  Naturforscherversammlung,  1854,  Lichtblick  Karl  Vogt mit seinem Buch  Köhlerglaube und Wissenschaft,  dann die  Verfinsterung  durch  den  Neukantianismus.  Drittens:  die  sogenannte  Gegenwart,  zu  der  dann  auch  Wendelin  Krall  zählt. 
Er  hätte  der  Besucherin  gern  gesagt,  wie  großartig  er  es  finde,  daß  seine  Frau  einfach  aufgestanden  und  gegangen  sei.  Eine  Protokollierung.  In  Pfullendorf.  Ihren  Mann  kann  sie  ruhig  bei  einer  zirka  vierzig  Jahre  jüngeren  Besucherin  aus North Carolina sitzen lassen. Schon an solche Zahlen zu  denken, ist ... ist ... ist beleidigend. 
Die  aus  dem  zweiten  Stock  von  Caldwell  Hall  hängende  rötliche  Kunststoffröhre  mit  der  deutlichen  Schlußwölbung  hat Anna  gar nicht  mitgekriegt. Er  hatte  Anna im Blickfeld.  Annas  große  Augen  verrieten  fast  nie,  was  hinter  diesen  Augen vorging. Diese Augen sind zu groß, vielleicht auch zu  tief.  Annas  Augen  sind  wie  ein  Meer,  das  zu  groß  ist  für  Stürme.  Auf  jeden  Fall  sind  sie  nicht  zu  bewegen  durch  grelle  Nachrichten  über  eine  Caldwell  Hall  in  North  Carolina.  Wahrscheinlich  entwarf  Anna,  während  die  Besucherin sprach, den Vorvertrag für eine Villa mit Seeblick  in  Nonnenhorn.  Die  Besucherin  wollte  mit  ihrer  Caldwell  HallAnzüglichkeit  wahrscheinlich  nur  Freimut  beweisen.  Zur Lockerung des beginnenden Gesprächs. Gottlieb konnte  sich  nicht  hindern  zu  denken:  Sie  hat  einen  unanständigen  Mund. Das wird man ja wohl noch denken dürfen. Er hörte  ihr  zu,  sagte  auch  mal  etwas  Zustimmendes,  dachte  aber 
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