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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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aufgenommen  worden  sei.  Wann  aufgenom men,  warum  so  spät  und  wie  dann.  Im  Internet  hatte  diese  Beate Gutbrod offenbar entdeckt, daß Gottlieb vor fünfzehn  Jahren in einem Anfall von Begeisterung zwei Aufsätze über  La Mettrie geschrieben hatte. 
    Hier  heiße ich Zürn, sagte Gottlieb jetzt. Er tat, als bemerke  er  Annas  kritische  Neugier  nicht.  Die  Besucherin  sollte  den  Eindruck  haben,  seine  Frau  sei  informiert  darüber,  daß  er  unter dem Namen Wendelin Krall über La Mettrie veröffent licht  hatte.  Gewußt  hatte  sie  es  einmal.  Vor  fünfzehn  oder  sechzehn  Jahren.  Verwitterte  Inschriften  im  Ehegestein.  Vielleicht  wußte  Anna  wirklich  nicht  mehr,  daß  ihr  Mann  jedes  seiner  wenigen  Themen  unter  einem  anderen  Namen  bearbeitet hatte. Und für La Mettrie war eben Wendelin Krall  zuständig  gewesen.  Den  Satz,  daß  er  hier  Zürn  heiße,  begleitete  Gottlieb  mit  Gesten,  die  der  Besucherin  sagen  mußten, hier am Tisch, hier beim Tee heiße ich Zürn. Warum  sollte  er  dieser  Besucherin  die  Innenansichten  seiner  Ehe  präsentieren. Auch wenn Gottlieb nur sogenannte Tatsachen  mitteilen würde, wüßte so eine Besucherin nichts über diese  Ehe,  sondern  nur  das,  was  er  ihr  über  diese  Ehe  mitteilen  wollte.  Was  verstünde  denn  eine  Besucherin,  wenn  er  jetzt  Annas  deutliches  Informationsdefizit  mit  den  Sprech  und  Sprachgepflogenheiten  dieser  Ehe  erklärte!  Daß  sie,  wenn  nicht  gerade  Kinder  da  sind,  nach  einander  frühstücken,  ist  der  Ausdruck  einer  Übereinstimmung,  die  eine  Besucherin  nicht begreifen kann. Überhaupt vollzieht sich das Gespräch  zwischen  ihm  und  Anna  auf  einer  für  eine  Besucherin  vor  Höhe  unhörbaren  Frequenz.  Die  höchsten  Töne  sind  die  feinsten.  Nur  daß  Sie¹s  wissen.  Je  weniger  sie  mit  einander  sprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklär mal  einer  Besucherin.  Je  länger  sie  nicht  mit  einander  sprechen,  desto  näher  kommen  sie  einander.  Also  wegen  einer  Besucherin,  die  zum  Kaffee  kommt,  weil  sich  das  mit  dem  Besuch  der  Großtante  namens  Mimi  verbinden  läßt,  wegen  einer  solchen  exemplarischen  Unwichtigkeit  das  sich  geradezu samtig anfühlende Einvernehmen des Schweigens  dem  Mißverständnis  einer  Touristin  auszuliefern −  nein,  danke. 
    Andererseits  hatte die so eröffnet, daß er hoch eingestiegen  war. Das war ein Duett. Diesem Duett nachhörend saßen sie  dann.  Zu  wissen,  woran  jetzt  jeder  an  diesem  Tisch  denkt,  brächte einen weiter. In der Menschenkenntnis. Die es nicht  gibt.  Weil  keiner  in  den  anderen  hineinsieht.  Wenn  er  der  Besucherin  sein  und  Annas  einvernehmliches  Nichtssagen  erklären  könnte,  wüßte  sie  immer  noch  nicht,  wie  wichtig  Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht.  Er  sitzt,  sie  räumt  auf,  er  kann  nur  sitzen,  starren,  sie  aber  redet,  und  das  tut  sie  für  ihn.  Zustimmend  schweigen,  das  kann  er  noch.  Sie  plappert  bewußt,  macht  deutlich,  daß  sie  jetzt  nur  plappert,  damit  demonstriert  sie,  man  könne  doch  immer  noch  plappern,  Quatsch  reden.  Es  kann  sein,  sie  versackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er  an.  Er  schafft  nicht  halb  soviel  Stimmung  oder  wenigstens  Akustik wie sie. Und gibt auch gleich auf. Dann ist die Stille,  die  folgt,  ein  Ausdruck  vollkommener  Harmonie.  Näher  kann  man  einander  nicht  sein  als  in  dieser  wunderbaren  Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens. 
    Es  war die Besucherin, die verfügte, daß er jetzt und wie er  jetzt  über  Anna  nachdachte.  Wäre  doch  Anna  ein  wenig  weniger lieb. Er merkte, daß er, wenn er, was vom Liebsein  handelte,  hochkommen  ließ,  schnell  bei  einem  Generalver dacht  landen  würde.  Wollte  er  etwas  gegen  Anna 
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