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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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reagierte  er  gewöhnlich, eingeübt, mit der abstrakten Anstrengung, noch  einmal,  noch  ein  einziges  Mal  aufzustehen,  ohne  Grund.  Dafür,  sitzen  zu  bleiben  und  zu  starren,  gab  es  eine  Wucht  von  Gründen,  die  in  eine  einzige  Schwere  münden.  Die  Schwere  will  den  Ausschlag  geben.  Es  tut  weh,  ihr  Gebot  zurückzuweisen.  Heute  keine  abstrakte,  grundlose  Aufstehbewegung.  Heute  blieb  er  sitzen.  Er  hatte  nicht  umgetauscht. Die Dollars waren gerettet. Vor ihm das Tele phon.  Er  konnte  in  jeder  Sekunde  Chapel  Hill  anrufen.  Vierzehn Tage Wartefrist. Sich so etwas zu befehlen! Er sollte  sich  lieber  befehlen,  sofort  aufzustehen,  in  die  Stadt  zu  rennen, und mitten in der Stadt sollte er zum Erstaunen der  Leute anfangen zu reden. Laut. Überlaut. Je lauter er redete,  desto  glaubhafter  würde  er  sein.  Schreien  mußte  er,  dann  war  er  glaubhaft.  Glaubwürdig.  Aber  bitte,  das  Wichtigste,  Dr. Matusaka: Einen Ton tiefer! Vielleicht würden ihn in den  ersten Sekunden ein paar für übergeschnappt halten. Stehen  bleiben würden ein paar. Die Leute bleiben ja überall stehen,  wo  etwas  ihren  Alltag  ritzt.  Leute,  würde  er  rufen,  glaubt  keinem, der aus Erfahrung über das Altwerden und über das  Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann über das Altwerden und  über  das  Altsein  die  Wahrheit  sagen.  Jeder  würde  sich  genieren, etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches in den Mund zu  nehmen.  Glaubt  keinem!  Auch  ihm  nicht!  Und  würde  an  seine  Kopfwarze  am  Haaransatz  greifen,  und  die  würde  bluten,  und  er  würde  den  Leuten  seine  blutigen  Finger  hinhalten.  Dann  würde  er  sich umdrehen  und  unaufhaltbar  gehen.  Und  würde  an  Gottes  Kapitän  mit  der  schief  sitzen den Mütze denken, der bis zum nächsten Mittwoch 780 000  Dollar  gebraucht  und  gekriegt  hatte.  In  Gottes  eigenem  Land. Dahin wollte er. Und Paul Schatz wartet, erwartet, daß  die  vierte  Frau  stirbt,  steht  auf,  fällt  um,  ist  tot.  Na  ja.  Da  mußte  man  doch  an  den  Allerweltsspruch  des  begnadeten  Maklers  denken,  mit  dem  er  jedem  Interessenten  den  Hauskauf  förmlich  befohlen  hatte:  Man  lebt  bloß  einmal.  Echt Schatz, stirbt nicht im Bett, will nicht, darf nicht im Bett  gestorben sein, steht noch ganz schnell auf, daß er dann tot  umfallen  kann.  Am  liebsten  hätte  sich  Gottlieb  über  die  Todesnachricht gefreut. Aber das darf man ja nicht. Du bist  durch  und  durch  zahm.  Gesteh  dir  doch  endlich,  daß  dich  Schlimmes  freut.  Negatives.  Nur  noch  Negatives,  Belei digendes,  Herabsetzendes,  Bösartiges,  Vernichtendes.  Dein  Kreislauf, die Säfte, sobald du dich etwas Wüstem hingibst,  löst  sich  in  dir  etwas  Verkrampftes,  Hartes.  Endlich  begriff  er,  warum  Bösartiges  so  beliebt  ist:  Sobald  er  auf  etwas  Lobendes,  gar  Preisendes  stieß,  konnte  er  nicht  weiterlesen,  sein Magen drehte sich um, wenn er las, daß jemand noch et was  gut  fand.  Und  konnte  das  lobende  Zeug  doch  nicht  einfach weit von sich werfen. Er mußte weiterlesen, obwohl  es  ihm  von  Satz  zu  Satz  schlechter  ging,  aber  aufhören  konnte er erst, wenn er sich dem Ersticken nahe fühlte, dann  erst  konnte  er  die  Lobhudelei  fallen  lassen,  zum  Fenster  rennen,  das  Fenster  aufreißen,  eine  ungemessene  Zeit  lang  am offenen Fenster stehen, fähig nur noch zu einem einzigen  Gedanken: Ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der es noch  Fenster gibt, die man öffnen kann. Da er aber so positiv nicht  enden konnte, mußte er weiterdenken: Bald wird es nur noch  Fenster geben, die man nicht mehr öffnen kann. Und warum  freute  ihn  das  nicht,  daß  alles  immer  schlimmer  wird?  Er  müßte  sich  doch  wohlfühlen,  wenn  alles  immer  schlimmer  würde. Fühlte er sich wohl? Jetzt verhör dich doch nicht so, 
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