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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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dringend,  da  wollte  sie  nicht  so  sein,  nicht  so  verschränkt  oder  gar  abweisend,  sondern  durchaus  mitmachend.  Eine  Frau  eben,  die ihren Mann, den sie kennt, bedient wie der Friseur einen  alten  Kunden.  Anna  will  es  doch  überhaupt  nicht,  sie  will  nur,  daß  du  es  willst.  Das  Eheverhältnis  schlechthin.  Anna  noch  die  bestmögliche  Frau.  Aber  auch  die  Bestmögliche  lahmt  dann.  Die  Währung,  in  der  bezahlt  wird,  heißt  dann  Lüge.  Gottlieb  spürte  eine  alles  ergreifende  Erbitterung  wachsen.  Geschlechtsverkehr!  Ein  solches  Wort  serviert  einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man  im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber  kommen  läßt  wie  keine  andere,  dienen  sie  einem  ein  Wort  an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den  Beamten  ist  kein  Vorwurf  zu  machen.  Die  konnten  ja  nicht  wissen, daß das Wort über den Gesetztext hinaus verwendet  werden  würde,  weil  die  Menschen,  sittlich  eingeschüchtert,  zu  keinem  Ausdruck,  zu  keinem  Wort  finden  würden,  das  von  dem  Vorgang  zu  zeugen  vermöchte.  Funktionäre  der  Fortpflanzung  a.  D.  So  sah  er  sich  und  Anna  alltäglich.  Er  selber  ein  kleiner  braver  Beamter  im  Geschlechtsdienst,  immer  gründlich  in  Vorbereitung  und  Ausführung.  Einmal  hat  er  denken  müssen,  daß  Anna  plötzlich  lachen  könnte  und  daß  er  sie  dann  töten  müßte.  Gottlieb  war  bereit,  allen  Trübsinn,  alle  Weltverneinung,  überhaupt  alles  Ungute,  zurückzuführen  auf  den  Mangel  an  freier  Freude  am  Geschlechtlichen. 
Das  Telephon  läutete.  Verwählt.  Gottlieb  fluchte  laut.  Es  hätte Beate sein können. Dann: Verwählt! Sich zu verwählen  gehörte  verboten.  Was  fiel  den  Leuten  ein,  sich  zu  verwählen.  Das  hätte  doch  wirklich  Beate  sein  können!  Sie  hätte,  wie  vor  Monaten,  gesagt:  98  Grad  und  eine  Luft  aus  feuchten  Schwaden.  Dann  hätte  er  gefragt:  Was  trägt  man?  Und  sie:  Ein  blaues  Laken.  Er  hätte  geseufzt,  also  hätte  sie  gesagt:  Das  Laken  ist  erfunden.  Sie  sei  nackt  und  einiger maßen bedürftig, schamlos nackt zu sein. Er darauf: Und das  in einem Zeitalter ohne Bildtelephon. Spätere Zeiten wüßten  überhaupt nicht, was das für ein Askesemurks gewesen sei,  leben,  lieben,  ohne  Bildtelephon.  Sie:  Andererseits  könnte  ihn  das  doch  sprachlich  beflügeln.  Er  gab  ihr  recht  und  beflügelte sich. Und durfte nicht anrufen. Vierzehn Tage und  Nächte lang. In der Hoffnung, sie rufe an oder seine Bedürf tigkeit lasse nach. Am meisten leide sie, hatte sie einmal am  Telephon  gesagt,  an  der  Ungleichzeitigkeit.  Bei  ihm  ist  es  Nacht, bei ihr überhaupt nicht. Das tat ihr weh. Stell dir vor,  unsere  Sinne,  unser  La  Mettrie,  und  dann  sechs  Stunden  Differenz!  Er  hätte  sie  am  liebsten  aus  dem  Hörer  gesogen.  Jetzt  spürte  er,  daß  er  jeden  Halt  verlieren  würde,  wenn  er  nicht bald gegensteuerte. Aber wo und wann war der letzte  feste  Punkt  gewesen,  von  dem  aus  er  noch  hätte  gegen steuern  können?  Es  war  ein  Daraufzutreiben,  keine  Gegen steuerung  möglich.  Der  Grad  der  Unbeeinflußbarkeit  ist  erreicht.  Das  Alter  ist  das  Gegenteil  der  Verfeinerung,  die  einem abverlangt wird. Ruchlos. So fühlt er sich. Endlich. Er  wird  den  Anruf  des  Lebens  nicht  ein  zweites  Mal  versäumen. In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte  den  letzten  Zug  versäumt.  Wo  sollte  er  jetzt  die  Nacht  verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt  du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens. 
So  lag  er  dann  wieder  neben  Anna  im  vertrauten  Dunkel  und  fühlte  das  geträumte  Unding  wachsen,  spürte  eine  offenbar  nicht  enden  wollende  Festigung  und  rührte  sich  nicht.  Welchen 
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