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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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Kräutergarten gekauft hatte. Wollte er gesund sein?
    Solange er gesund war, bezweifelte er das. Er langte an die Warze, die er im Nacken am Haaransatz hatte, besah seine Fingerspitze, sie war blutig. Er langte noch einmal hin. Seine
    Warze blutete. Zum Glück war Anna mit ihren Kräutern
    beschäftigt. Dr. Matusaka hatte gesagt, für die Lähmung
    könne ein Bronchialkrebs in Frage kommen. Aber seine
    Stimme war vollkommen gesund. Der Doktor hatte Gottlieb
    geraten, einen halben Ton tiefer zu sprechen, als er es 212
    gewohnt war. Es sei am Anfang ein bißchen beschwerlich,
    tiefer zu sprechen, als man es gewohnt sei, aber man könne
    das zur Natur werden lassen. Gottlieb hatte den einzigen Rat
    des japanischen Arztes, den er befolgen wollte, vergessen gehabt. Und es tat sofort gut, tiefer zu sprechen. Es ent-spannte, verlangsamte. Anna merkte es gleich. Er klärte sie auf. Ihr leuchtete diese Umstellung sofort ein. Jetzt konnte Gottlieb den japanischen Arzt ausführlich loben. Sie werde Gottlieb kontrollieren und ihn sofort darauf hinweisen, wenn
    er wieder einen halben Ton in die Höhe rutsche. Gar nicht genug wundern konnte sie sich darüber, daß ihr bisher noch
    nie in den Sinn gekommen sei, Stimmbandprobleme durch
    Tiefersprechen zu behandeln. Und führte ihn auf die
    Terrasse. Zur Sonnenblume. Die hält sich, sagte Anna. Anna
    wollte also über die Sonnenblume auf die Spenderin
    kommen. Gottlieb sagte: Unglaublich. Anna sagte: Ein Blu‐
    menwunder. Und Gottlieb: Deine Pflege.
    Anna sagte, die Blume stehe noch genau da, wo sie am Tag
    des Besuches hingestellt worden sei. Anna habe das Wasser
    nicht gewechselt. Vielleicht sei die Blume mit einem Gift behandelt worden, das jede Art von Biologie verhindere.
    Du hast sie ersetzt. Das ist nicht die Sonnenblume, die die
    Besucherin gebracht hat. Er habe sich im ersten Augenblick verblüffen lassen, jetzt sehe er, daß es gar nicht die selbe Sonnenblume sei.
    Und Anna: Es ist die selbe, ich schwörʹs.
    Und Gottlieb: Aber sie hat jetzt ein anderes Gesicht, eine andere Stimmung.
    Das habe sie auch bemerkt, sagte Anna. Sie führe das auf das zurück, was die Spenderin erlebt habe oder jetzt erlebe.

    213
    Wie, findet Gottlieb, sieht die Sonnenblume jetzt aus?
    Vorher war es, sagte Gottlieb, eine runde dunkle Uner‐
    gründlichkeit, vollkommen beschirmt von einem makellosen
    gelben Blätterkreis. Sie sah aus, als wisse sie, daß man, sie anschauend, nichts mehr wollen könne, als sie anzuschauen.
    Sie hatte sozusagen alles Selbstbewußtsein der Welt.
    Und jetzt, fragte Anna.
    Sie ist verstört, zerstört. Die Blätter stehen so, als wolle kein Blatt mit dem nächsten Blatt noch irgendetwas zu tun haben.
    Jedes sträubt sich gegen jedes. Das dunkle Rund, löchrig, verwüstet. Er wundere sich nur noch darüber, daß er das nicht sofort gesehen habe.
    Das Sehen braucht mehr Zeit als das Hören, sagte Anna.
    Durch das Hinschauen verändert sich das Angeschaute
    andauernd. Der Sehende produziert das Gesehene. Mehr als
    der Hörer das Gehörte.
    Gottlieb sagte: Unglaublich.
    Und Anna: Was?
    Und Gottlieb: Du.
    Anna nahm den Krug mit der Sonnenblume und trug ihn
    hinaus. In den Garten. Als sie zurückkam, machte sie durch
    eine Geste deutlich, daß Gottlieb nicht fragen sollte. Man nennt das Entsorgung, sagte sie.
    Als sie beide im Haus waren, läutete das Telephon. Anna machte pantomimisch klar, daß Gottlieb den Telephondienst
    wieder zu übernehmen habe. Gottlieb meldete sich. Es war der vom Kamingeschäft. Als erstes sagte er: Sind Sie krank?
    Gottlieb sagte: Nicht daß ich wüßte. Der mußte zuerst noch bemerken, daß Herrn Dr. Zürns Stimme zuerst geklungen
    habe, als sei Herr Dr. Zürn krank. Ja, also, ob sich Zürns 214
    entschieden hätten, welches Kamingitter sie nehmen wollten.
    Ja, sie haben. Sie nehmen das höhere. Das freute den. Er läßt
    es noch heute nachmittag einbauen.
    Anna schüttelte den Kopf so schwer und so langsam, wie
    man ihn schüttelt, wenn man etwas überhaupt nicht mehr
    versteht. Gottlieb fragte nach. Aber Anna sagte: Laß nur.
    Gottlieb fragte, was er lassen solle. Anna war deutlich
    bemüht, jetzt nichts Trennendes entstehen zu lassen. Sie
    seien doch endlich wieder eines Sinnes, was sollen da die Bagatellen. Und kam zu ihm hin und legte ihm die Hände um den Hals. Und weil er spürte, dass sie sich anstrengen mußte, freundlich zu sein, mußte er fragen. Da brach es förmlich aus ihr heraus: Du hättest nach dem Preis fragen sollen. Kein
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