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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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    verständigungsintensivere Situation geben kann als die des Paars im Bett, wird eben dadurch auch die Verständigungs-armut deutlich: Die eigene Schwere wird durch nichts so
    erlebbar wie durch den Versuch, in die Luft zu springen. Wie
    hätte er denn bei dem, was Anna im Bett erlebte oder
    produzierte, nicht zum Beobachter werden können! Ihr
    Gesicht war ein Film, der in dieser Nacht uraufgeführt
    wurde. Das Gesicht durchlief ein ganzes Leben. Zuerst
    mädchenhaft, die Lippen schälen sich nur zögernd von den Zähnen. Sie scheint dagegen zu sein, daß sie schon lächle.
    Aber sie will zugewendet sein. Gunstvoll. Dann doch
    teilnehmend. Dann mehr als teilnehmend. Selber tätig. Mehr
    als nur mitmachend. Einerseits hingerissen, andererseits
    hinreißend. Der schönste Ehrgeiz der Welt. Siegen wollend, ohne es zu wissen. Dann schon frech. Lustbewußt. Scharf auf
    Schamlosigkeit. Genußgierig. Und zeigend, daß sie es sei.
    Dann nur noch mitgenommen. Leidend. Mundoffen. Die
    Augen rein schwarz. Sich zu zwei Spalten verengend.
    Endlich eine Konzentration aller Kraftlinien auf der
    Nasenwurzel. So entgleist hat sie noch nie ausgesehen. Sagt
    sich Gottlieb. Dem Tod näher als dem Leben. Die Zunge
    zwischen den halboffenen Lippen wie ein erlegtes Wild.
    Speichel trieft. Sie ist hinüber. Und hat ihn mitgenommen.
    Sie schafften es, einander zu verfallen. Und so lagen sie dann. Länger. Wahrscheinlich war er vor ihr eingeschlafen.
    Am nächsten Morgen eroberte sie seine Aufmerksamkeit,
    bevor er recht wach oder zu einer Besinnung gekommen
    war. Er saß auf der Terrasse, frühstückte dumpf, auf jeden Fall bewußtseinsfern, vor sich hin, da stand Anna, schon aus
    der Stadt zurück, unter der Tür und sagte übermütig: Du 218
    könntest heute abend meinen Mann darstellen. Und Gottlieb
    mühelos: Nichts lieber als das. Auf welcher Bühne? Anna
    schwenkte den Blumenstrauß, den sie in der Hand hatte.
    Rosen, aber von allen Farben, die bei Rosen überhaupt
    vorkommen. Lissi Reinhold, sagte Gottlieb. Bravo, sagte
    Anna, Sträuße nur aus einer Sorte Blumen, aber da in allen Farben, das ist immer noch Lissi Reinhold. Und was wird gespielt, fragte Gottlieb. Sie will mir wieder einmal etwas zuschanzen, sagte Anna, ein Hotel, in Konstanz. Gottlieb
    sagte: Toll. Anna korrigierte streng: Lieber Mann, das war in
    deiner Zeit, als ein Hotel noch toll war. Gottlieb sagte: Daß sie mein Schwanenhaus damals schmählich an Kaltammer
    verraten hat, kann sie ohnehin nicht mehr gutmachen.
    In Lissi Reinholds Immernochsalon saß dann tatsächlich
    kein tolles, sondern eher ein kümmerliches Hotelierpaar.
    Kläglich und klagend. Vorgestellt: Hugo und Jacqueline.
    Nachname unverständlich. Hugo und Jacqueline haben sich
    das Hotel ein Leben lang erarbeitet, sind jetzt schuldenfrei, sind alt, müssen verkaufen, um davon leben zu können. Der
    Mann nickte, sobald seine Frau sprach, ununterbrochen.
    Vielleicht hörte er nur zu, wenn seine Frau sprach. Die dünne Jacqueline trug eine gewaltige, eine steil hinaufra-gende Perücke, die ihrerseits auch zu allem, was die Frau sagte, nickte. Gottlieb dachte: Vor zwanzig Jahren hätte Lissi
    Reinhold, die damals noch schwarzweiße Luxusjeeps fuhr,
    die Monteverdi Safari hießen, ein so verkümmertes Paar nicht eingeladen. Lissi Reinhold sang nicht mehr. Sie hatte nicht nur ihre Stimme verloren. Gottlieb konnte nicht mehr wie früher den Abend lang an Frau Reinholds grünspangrüner,
    durchsichtiger Seide auf‐ und niederschauen und das Gefühl

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    haben, eingeladen zu sein, Frau Reinholds Wölbungen und
    Rundungen ganz direkt mit den Augen nachzubeten. Von
    Lissi Reinhold war nichts übrig geblieben als ein kleider-behängtes Gebein. Braungebrannt war sie noch immer, aber
    jetzt sah sie aus wie geröstet. Anna hat alles, was Lissi Reinhold durchlitten hat, und das waren nicht nur Krank-heiten, immer gemeldet. Anna hat bei allen Kontakten das Menschliche verwaltet. Ihre Fähigkeit, teilzunehmen, war
    das Ursprünglichste überhaupt. Zu Hause in der Herde
    wahrscheinlich. Auf der Herfahrt hatte Anna ihn, wie es die
    Routine befahl, auf den neuesten Stand gebracht: Judith, die
    ihrer Mutter nachgesungen und als Siebzehnjährige Konzerte
    gegeben hatte, die in Magdas Klasse immer die Klassenbeste
    gewesen war, die sei jetzt glücklich, hieß es, verheiratet mit einem Ofensetzer, der sie und drei Kinder sorgenfrei
    ernähre. Und Benjamin, Primus in Julias Klasse und schon früh
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