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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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Anna gegen die mächtigen Stämme, setzte sie fast

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    ein bißchen auf die sich anbietenden, glatten Rundungen
    und fing an, Anna zu küssen, und zwar mit einem Ausdruck
    großer Dankbarkeit. Wie froh er sei. Und glücklich auf eine verschollen geglaubte Art. Daß alles, was dann passierte, überhaupt nicht bequem oder genußreich war, war ihm nicht
    nur recht, das forcierte er geradezu. Daß Anna im Kostüm gekommen war und nicht in Hosen, kann ausschlaggebend
    gewesen sein. Eine lange Hose wäre zuviel gewesen. Obwohl
    er vor allem zeigen wollte, daß er jetzt in aller Hast und Unbequemlichkeit mit ihr schlafen wolle. Je unbequemer,
    um so deutlicher wurde, was er wollte. Das Unbequeme als
    sein Geständnis. Als sein Heimkehrgeständnis. Als sein
    Einundalleszugeben. Deshalb mußte diese einvernehmliche
    Vergewaltigung stattfinden. Und gesagt werden mußte
    nichts. So gut wie nichts.
    Und da Anna das alles deutlich genug erkannte und be‐
    antwortete, bewies, daß er sich nicht getäuscht hatte und daß
    sie einander nicht täuschten. Als er Anna von der Bu‐
    chenrundung herunterhalf, sagte er: Du weißt, beim Ge‐
    witter heißt es, Buchen mußt du suchen. Wir haben sie gefunden, sagte Anna.
    Nicht ganz so leicht war dann der Weg zurück zum
    Parkplatz zu finden. Er hatte sich in all der Hast den Weg nicht gemerkt. Nach zweistündigen Irrwegen fanden sie
    zurück. Einigermaßen zerzaust. Er sagte, als er Anna die Autotür aufhielt, für den Rückweg entschuldige er sich.
    Anna sah ihn an, als sehe sie ihn heute zum ersten Mal. Dann
    sagte sie: Unglaublich. Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt seit es jung war, nie bloß alt werden kann. Das junge Gesicht schaut aus allen 208
    Jahren heraus. Gesichter, die man erst als ältere kennenlernt,
    sind dann wahrscheinlich nichts als ältere Gesichter. Anna, dachte er, ist und bleibt das Mädchen.

    209

    IV.

    Kehre

    210

    I.

    Der Friseur sagte: Darf ich Ihnen das anreichen? Und hielt ihm, nach dem Haarewaschen, ein kleines Handtüchlein hin,
    womit er sich die Augen auswischen konnte, falls Shampoo
    hineingekommen sein sollte. Gottlieb sprang nicht auf, erhob
    sich aber doch sehr plötzlich, legte das Geld auf den
    Kassentisch und ging. Gerade, daß er noch die umgehängten
    Tücher loswerden konnte. Was es zur Zeit kostete, wußte er.
    Seit fünfundzwanzig Jahren kam er in dieses Geschäft. Aber
    jetzt nicht mehr. Nie mehr. Darf ich Ihnen das anreichen.
    Hatte der das fünfundzwanzig Jahre lang gesagt, und
    Gottlieb war dieser Satz fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf
    die Nerven gegangen? Dann war es höchste Zeit, daß er
    reagierte.
    Sobald er draußen war, rannte er. Er hatte Angst, er könne
    umkehren und sich bei seinem Friseur, der ja wahrhaft sein
    Friseur war, entschuldigen. Anna sagte er nichts von dem plötzlichen Aufbruch im Friseurgeschäft. Was der Friseur
    über ihn dachte, durfte ihn nicht kümmern. In ihm breitete sich eine Art Zufriedenheit aus: Er hatte getan, was er wollte.
    Er hatte sich einmal nicht mehr ganz beherrscht. Er fühlte sich fast wie in der Badewanne. In der er nie lag, weil er von
    Anfang an nicht baden, sondern nur duschen gelernt hatte.
    Alles falsch sehen, das wollte er. Das wollte er dürfen. Keiner
    Erwartung entsprechen.

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    Schluß mit entsprechen. Donʹt rise to the occasion. Und
    gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht vom Friseur provoziert worden war und nicht dem Friseur
    gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegel‐
    bild nicht mehr aus. Eine halbe Stunde dieser Fratze
    ausgesetzt zu sein −, das war unzumutbar. Was die Jahre in
    seinem Gesicht angerichtet hatten, das mußte er nicht auch noch anschauen. Dreißig Minuten, achtzehnhundert Sekunden lang, präsentiert von einem kristallscharfen, alles
    entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden,
    der ihm die Haare vor einem verhängten Spiegel schnitt.
    Basta.
    Als er noch fünfzig Meter von zu Hause entfernt war,
    überholte ihn Anna. Sie fuhr winkend vorbei, ließ das Ga-ragentor offen, war glücklich, weil der Rechtsanwalt aus
    Göppingen jetzt endlich den Vorvertrag für das Bauernhaus
    in Wintersulgen unterschrieben hatte. Und das vielleicht nur,
    weil sie ihm für seine Analthrombose zu einer Blutegelsalbe
    geraten hatte, und die hatte inzwischen gewirkt, der Kunde
    ist geheilt.
    Gottlieb schaute zu, wie sie Pflänzchen auspackte, die sie für ihren
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