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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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allen, die sie liebte und die sie liebten, und wie die Fahrt des Schiffchens pfeilschnell wurde, wie es über die Klippe schnellte, hinab in die Tiefe, jubelte sie laut, und plötzlich wurde aus dem Schiffchen ein Schiff und aus dem Bach ein Strom, der einem Katarakt entgegenfloß, und sie saß in diesem Schiff, das immer schneller dahintrieb, dem Fall zu, und über diesem, auf zwei Klippen, hockten Polyphem, der sie mit einer Kamera fotografierte, die wie das Auge eines Riesen aussah, und Achilles, der lachte und mit dem nackten Oberkörper auf und ab wippte.

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    Sie brachen kurz nach einem Einschlag auf, der so heftig war, daß sie glaubte, die Station stürze ein, nichts funktionierte richtig, der Geländewagen mußte nach oben gehebelt werden, endlich im Freien wurde sie von Polyphem mit einer Handschelle an eine Stange der Pritsche gefesselt, wo sie zwischen Bergen von Filmrollen lag und dann raste er davon, doch kam keine Rakete mehr, sie fuhren ungestört die ganze Nacht immer 75

    tiefer nach Süden, über ihr die Sterne, deren Namen sie vergessen hatte, bis auf einen, Kanopus, den würde sie auch sehen, hatte D. gesagt, aber nun wußte sie nicht, ob sie ihn sah oder nicht, was sie seltsam quälte, war es ihr doch, Kanopus würde ihr helfen, wenn sie ihn erkennen könnte, dann das Verblassen der Sterne, als letzter einer, der vielleicht Kanopus war, das eisige Versilbern der Nacht zum Tage, sie fror, das Heraufstei-gen des Sonnenballs, Polyphem ließ sie frei, trieb sie in ihrem roten Pelzmantel in die große Wüste, in eine zernarbte Mond-landschaft aus Sand und Stein, Wadis entlang und zwischen Sanddünen und abenteuerlichen Felsformationen hindurch, in eine Holle von Licht und Schatten, Staub und Trockenheit, so wie Jytte Sörensen hineingetrieben worden war, hinter ihr, bald sie fast berührend, bald entfernter, bald nicht mehr hörbar, bald heranbrausend, ein Untier, das mit seinem Opfer spielte, der Geländewagen, von Polyphem gesteuert, neben ihm Achilles, immer noch halb betäubt hin und her wippend aus der ›Ilias‹
    zitierend, Verse, das einzige was der Stahlsplitter, der ihn getroffen hatte, nicht zerstören konnte, doch brauchte Polyphem sie nicht zu lenken, sie ging und ging, in ihren Pelzmantel gehüllt, lief der Sonne entgegen, die immer höher stieg, dann ein Lachen hinter ihr, der Geländewagen jagte sie wie der Polizist im weißen Turban den Schakal gejagt hatte, vielleicht war sie dieser Schakal, sie blieb stehen, der Geländewagen auch, sie war schweißüberströmt, sie zog sich aus, es war ihr gleichgültig, daß man ihr zusah, hüllte sich nur noch in den Pelzmantel, ging weiter, der Geländewagen hinter ihr, sie ging und ging, die Sonne brannte den Himmel weg, wenn der Geländewagen stand, zurückblieb, hörte sie das Geräusch einer Kamera, der Versuch eine Ermordete zu porträtieren wurde nun unternommen, nur daß sie selber die Ermordete sein würde, doch nicht sie porträtierte, sondern sie wurde porträtiert und sie dachte, was mit ihrem Porträt geschehen werde, ob 76

    Polyphem es weiteren Opfern vorführen werde, so wie er es ihr gegenüber mit dem Porträt der Dänin getan hatte, dann dachte sie an nichts mehr, weil es sinnlos war, an etwas zu denken, in der flirrenden Ferne tauchten bizarre niedere Felsen auf, sie dachte, vielleicht eine Fata Morgana, sie hatte immer geträumt, eine Fata Morgana zu sehen, doch als sie, schon taumelnd, näher kam, erwiesen sich die Felsen als ein Friedhof zerschossener Panzer, die sie wie schildkrötenhafte Riesentiere umstan-den, während mächtige ausgebrannte Scheinwerfermasten in die gleißende Leere stachen, welche die Panzerschlacht be-leuchtet hatten, doch kaum hatte sie den Ort erkannt, wohin sie getrieben worden war, warf sich der Schatten des heranrückenden Geländewagens wie ein Mantel über sie, und wie Achilles vor ihr stand, halb nackt, staubbedeckt, als käme er von einem Schlachtgetümmel, die alten Militärhosen zerfetzt, die nackten Füße sandverkrustet, die Idiotenaugen weit geöffnet, wurde sie vom ungeheuren Anprall der Gegenwart erfaßt, von einer noch nie gekannten Lust zu leben, ewig zu leben, sich auf diesen Riesen, auf diesen idiotischen Gott zu werfen, die Zähne in seinen Hals zu schlagen, plötzlich ein Raubtier geworden, bar jeder Menschlichkeit, eins mit dem, der sie vergewaltigen und töten wollte, eins mit der fürchterlichen Stupidität der Welt, doch er schien ihr zu entweichen, drehte sich im Kreise,
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