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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sich evolutionär abspulenden Prozeß der Materie einzugreifen, der im reinen Nichts münde, da selbst die Protonen einmal zerfielen und in dessen Verlauf die Erde, Pflanzen, Tiere und die Menschen entstanden seien und untergingen, nur wenn Gott reines Beobachten sei, bleibe er von seiner Schöpfung unbesudelt, was auch für ihn den Kameramann gelte, auch er habe nur zu beobachten, wäre es nicht so, hätte er sich längst eine Kugel durch den Kopf gejagt, jedes Gefühl wie Furcht, Liebe, Mitleid, Zorn, Verachtung, Rache, Schuld trübe nicht nur die reine Beobachtung, mehr noch, mache sie unmöglich, färbe ihr die Gefühle ein, so daß er der ekelhaften Welt beigemischt statt von ihr abgehoben wäre, die Wirklichkeit sei nur vermittels der Kamera objektiv erfaßbar, aseptisch, diese allein sei fähig, die Zeit und den Raum festzuhalten, worin sich das Erlebnis abspiele, während ohne Kamera das Erlebnis davongleite, sei es doch, kaum erlebt, schon Vergangenheit, damit nur noch Erinnerung und wie jede Erinnerung verfälscht, Fiktion, weshalb es ihm vorkomme, er sei kein Mensch mehr – da zum Mensch-Sein der Schein gehöre, die Einbildung eben, etwas direkt erleben zu können –, er sei vielmehr wie der Zyklop Polyphem, der die Welt durch ein einziges rundes Auge mitten auf der Stirne wie durch eine Kamera erlebt habe, er habe deshalb den VW-Bus nicht nur in die Luft gesprengt, um zu verhindern, daß Olsen dem Schicksal der dänischen Journalistin weiterhin nachspüre und in eine Lage gerate, in die sie, die F., jetzt geraten sei, sondern, fügte er hinzu, nach einem erneuten Heranheulen, Einschlagen, 66

    Zerbersten, Erzittern, doch ferner, sanfter, und einem nachlässigen »weit daneben«, es sei ihm vor allem darum gegangen, die Explosion zu filmen – sie solle ihn nicht falsch verstehen –, ein schreckliches Unglück, gewiß, aber dank der Kamera ein verewigtes Ereignis, ein Gleichnis der Weltkatastrophe, denn die Kamera sei dazu da, eine Zehntel-, eine Hundertstel-, ja Tausendstelsekunde festzuhalten, die Zeit aufzuhalten, indem sie die Zeit vernichte, auch der Film gebe ja die Wirklichkeit, lasse man ihn ablaufen, nur scheinbar wieder, er täusche einen Ablauf vor, der aus aneinandergereihten Einzelaufnahmen bestände, habe er einen Film gedreht, so zerschneide er den Film wieder, jede dieser Einzelaufnahmen stelle dann eine kristallisierte Wirklichkeit dar, eine unendliche Kostbarkeit, aber jetzt schwebten die zwei Satelliten über ihm, er habe sich mit seiner Kamera wie ein Gott gefühlt, aber nun werde beobachtet, was er beobachte und nicht nur was er beobachte, sondern auch er werde beobachtet, wie er beobachte, er kenne das Auflösungsvermögen der Satellitenaufnahmen, ein Gott, der beobachtet werde, sei kein Gott mehr, Gott werde nicht beobachtet, die Freiheit Gottes bestehe darin, daß er ein verborgener, versteckter Gott sei, und die Unfreiheit der Menschen, daß sie beobachtet würden, doch noch entsetzlicher sei, von wem er beobachtet und lächerlich gemacht werde, von einem System von Computern, denn was ihn beobachte seien zwei mit zwei Computern verbundene Kameras, beobachtet von zwei weiteren Computern, die ihrerseits von Computern beobachtet und in die mit ihnen verbundenen Computer einge-speist, abgetastet, umgesetzt, wieder zusammengesetzt und von Computern weiterverarbeitet in Laboratorien entwickelt, vergrößert, gesichtet und interpretiert würden, von wem und wo und ob überhaupt irgendwann von Menschen wisse er nicht, auch Computer verstünden Satellitenaufnahmen zu lesen und zu signalisieren, seien sie auf Einzelheiten und Abwei-67

    chungen programmiert, er, Polyphem, sei ein gestürzter Gott, seine Stelle hätte nun ein Computer eingenommen, den ein zweiter Computer beobachte, ein Gott beobachte den andern, die Welt drehe sich ihrem Ursprung entgegen.

    21

    Er hatte ein Glas Whisky um das andere getrunken, kaum daß er ihn hin und wieder mit Wasser verdünnte, er hatte sich auch wieder in den Menschen verwandelt, den sie an der entstellten Leiche des Dänen kennengelernt hatte, in einen Säufer mit einem durchfurchten Gesicht mit kleinen brennenden Augen, die dennoch wie versteint wirkten, als hätten sie seit Ewigkeit in ein kaltes Grausen geblickt, und als sie fragte, aufs Gerate-wohl, wer den Einfall gehabt habe, ihn Polyphem zu nennen, stutzte sie –, kaum hatte sie die Frage gestellt, setzte er die Flasche Whisky an den Mund und dann antwortete er schwer-fällig, sie sei
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