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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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einen zufälligen Faktor darstelle, an jenem Orte, wo es sich offensichtlich abgespielt habe, zu rekonstruieren, festzuhalten was festzuhalten sei, damit der so entstandene Film an Fachkongressen und der Staatsanwaltschaft vorgeführt werden könne, als Schuldiger habe er wie jeder Verbrecher das Recht auf das Geheimhalten seiner Verfehlung verloren und damit händigte er ihr einen Scheck in beträchtlicher Höhe, mehrere Fotos der Verstorbenen, sowie ihr Tagebuch und seine Notizen aus, worauf die F. den Auftrag zur Verwunderung ihres Teams annahm.

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    Nachdem die F. sich verabschiedet, auf die Frage ihres Kameramanns, was der Unsinn denn bedeute, keine Antwort gegeben und während der Nacht fast bis zur Morgendämmerung das Tagebuch und die Notizen durchgesehen hatte, organisierte sie nach kurzem Schlaf noch von ihrem Bett aus mit einem Reisebüro den Flug nach M., fuhr in die Stadt, kaufte die Boulevard-presse auf deren Titelseite Bilder der seltsamen Beerdigung und der Toten waren und setzte sich, bevor sie einer flüchtig hingeschriebenen Adresse nachging, die sie im Tagebuch gefunden hatte, im italienischen Restaurant, wo sie frühstückte, zum Logiker D., dessen Vorlesung auf der Universität von zwei, drei Studenten besucht wurde, zu einem scharfsinnigen Kauz, von dem niemand wußte, ob er dem Leben gegenüber 8

    hilflos war oder diese Hilflosigkeit nur spielte, der jedem, welcher sich in dem stets überfüllten Restaurant zu ihm setzte, seine logischen Probleme erklärte, derart wirr und gründlich, daß sie niemand zu begreifen vermochte, auch die F. nicht, die ihn jedoch amüsant fand, ihn mochte und ihm gegenüber oft ihre Pläne erläuterte, so jetzt, indem sie ihm vom merkwürdi-gen Auftrag des Psychiaters erzählte und auf das Tagebuch seiner Frau zu sprechen kam, ohne sich bewußt zu werden, daß sie davon berichtete, so sehr war sie noch mit dem engbe-schriebenen Heft beschäftigt, sagte sie doch, sie habe noch nie eine ähnliche Schilderung eines Menschen gelesen, Tina von Lambert habe ihren Mann als ein Ungeheuer beschrieben, aber allmählich, nicht sofort, sondern indem sie eine Facette dieses Menschen um die andere von ihm gleichsam losgelöst, dann wie unter einem Mikroskop mit immer steigender Vergrößerung und in immer schärferem Licht betrachtet, seitenlang beschrieben habe, wie er esse, seitenlang wie er in den Zähnen stochere, seitenlang wie er sich und wo er sich kratze, seitenlang wie er schnalze oder sich räuspere, huste, niese oder andere unwillkürliche Bewegungen, Gesten, Zuckungen und Eigentümlichkeiten, die mehr und weniger bei jedem Menschen vorzufinden seien, aber dies alles sei in einer Art und Weise dargestellt, daß ihr, der F., nun das Essen an sich uner-träglich vorkomme, und wenn sie jetzt noch nichts von ihrem Frühstück angerührt habe, so nur, weil sie sich vorstelle, sie esse ebenso abscheulich, man könne gar nicht ästhetisch essen, es sei, lese man dieses Tagebuch, als ob sich eine Wolke aus lauter Beobachtungen zu einem Klumpen von Haß und Abscheu verdichte, es komme ihr vor, als hätte sie ein Drehbuch gelesen zur Dokumentation jedes Menschen, als ob jeder Mensch, filme man ihn so, zu einem von Lambert werde, wie ihn dessen Frau beschrieben habe, indem er durch eine so unbarmherzige Beobachtung jede Individualität verliere, 9

    dagegen habe ihr der Psychiater einen ganz anderen Eindruck gemacht, er sei ein Fanatiker seines Berufs, der an seinem Beruf zu zweifeln beginne, er habe etwas ungemein Kindliches wie viele Wissenschaftler, und Hilfloses, er hätte geglaubt seine Frau zu lieben und glaube es immer noch, aber man bilde sich allzuleicht ein, jemanden zu lieben und liebe im Grunde nur sich selber, die spektakuläre Beerdigung habe sie mißtrauisch gemacht, die kaschiere nur seinen verletzten Stolz, warum nicht, und mit dem Auftrag, nach den Umständen zu forschen, die zum Tode seiner Frau geführt hätten, versuche er, wenn auch unbewußt, vor allem sich selber ein Denkmal zu setzen, sei die Schilderung Tinas über ihren Mann ins Übertriebene, ins allzu Anschauliche geraten, so die Notizen von Lamberts ins allzu Abstrakte, nicht ein Beobachten, sondern ein Abstra-hieren vom Menschen sei hinter diesen Notizen zu lesen, die Depression definiert als psychosomatisches Phänomen, ausgelöst durch die Einsicht in die Sinnlosigkeit des Seins, die dem Sein an sich anhafte, der Sinn des Seins sei das Sein selber und damit sei das Sein prinzipiell nicht
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