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Der aufrechte Soldat

Der aufrechte Soldat

Titel: Der aufrechte Soldat
Autoren: Brian W. Aldiss
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Biergeruch wahrzunehmen war, eine Erinnerung an die Zeit, in der dieses Haus eine Kneipe gewesen war.
    »Hier ist wirklich ein gründlicher Frühjahrsputz nötig, ehe jemand kommt!« sagte Mutter und sah dabei so schwach und blaß aus, als bäte sie ständig um Entschuldigung für irgendeinen ungeheuren, unaussprechlichen Mangel. »Die Fenster sehen so schrecklich aus mit dem aufgeklebten Papier, und ich wünschte, wir könnten uns ein paar neue Vorhänge kaufen.«
    Gewiß sah das Haus vernachlässigt aus, nicht nur wegen der Kriegswirren, sondern auch weil die Nervenkrankheit meiner Mutter immer schlimmer wurde. Zur Hausarbeit sei sie überhaupt nicht mehr fähig, behauptete sie. Sie wurde zu unserem Ärger von Woche zu Woche unerträglicher.
    Am Ende überredeten Nelson, Ann und ich Vater, ein kleines Fest zu veranstalten. Ann war sechzehn; sie brach in Tränen aus und sagte, sie wolle ihren Bruder nicht nach Übersee gehen lassen, wenn ihm zu Ehren vorher keine Party stattgefunden habe.
    Und wer, meinen Sie, erschien an diesem Abend, wer stampfte traurig die Treppe herauf und ins Wohnzimmer, um wie bestellt und nicht abgeholt in Feiertagskleidung herumzusitzen und sich über die Fadheit von Würstchen, den Verfall der moralischen Werte und die militärischen Fehler der Russen, Australier, Kanadier, Amerikaner und Franzosen auszulassen? Nun, der kleine Mr. Jeremy Church mit seinem von Schorf bedeckten Schädel, Vaters Bürovorsteher aus der Bank, mit seiner Frau Irene und ihrem aufdringlichen Gerede von dem, was sie »liebte«, und dem, was sie »haßte«; dazu meine Großmutter, die schon etwas seltsam war, die jedoch über die Zeiten klag te, in denen wir lebten, indem sie enthüllte, daß Sandsäcke mit nichts anderem gefüllt wurden als mit normalem Seesand, und die Moles aus dem Lebensmittelladen, pingelig, aber patriotisch, die eine alte Tante von Mrs. Mole mitbrachten, die in ihrer Londoner Wohnung völlig ausgebombt wurde und keine Angst hatte, davon zu erzählen; ferner Mutters Freundin Mrs. Lilly Crane, deren Ehemann sich wer weiß wo aufhielt, mit ihrer Tochter Henrietta, die von Ann den Spitznamen »Das Rätsel« erhielt; dann Nelsons derzeitige Freundin Valerie, die nur auf Nelsons Zeichen wartete, um zu verschwinden, sobald es möglich erschien; außerdem die nette alte Miss Lewis von nebenan, die immer noch jeden Sonntag in die Kirche ging, bei Regen und bei Sonnenschein, obgleich sie schon mit Riesenschritten auf die hundertundnochwas zuging, schließlich eine sexy aussehende Freundin von Ann, Sylvia Rudge. Wir waren insgesamt sechzehn Personen, die einzigen in den East Midlands zurückgebliebenen, die die Sterblichkeit und der Gestellungsbefehl verschont hatte. Ein mehr toter als lebendiger Haufen. Mutter besorgte mit ihrer berühmten leichten Hand die gegenseitige Vorstellung und lächelte traurig in meine Richtung, während praktisch jeder ihr sein Beileid dafür ausdrückte, daß ihr nun der jüngste Sohn weggenommen würde. Das Ganze ähnelte mehr einem Begräbnis und nicht so sehr einem Freudenfest.
    Das Durchschnittsalter der Partygäste – fünfzig, neunzig? Wen interessierte es schon? Ich kauerte auf meinem Thron und überlegte, wann die Besucher es – wenn überhaupt – zum letztenmal getrieben hatten. Es war schwer vorstellbar, daß die Frauen penetrabel waren oder, wenn schon penetrabel, daß die Männer fähig waren, sie zu penetrieren. Schaffte Mr. Mole es gelegentlich auf einem Sack Rohrzucker und unter einem mit einer Flagge drapierten Photo von Winnie, wie er zwei Finger zum Siegeszeichen in die Luft streckte, über einen versteckten Zugang in Mrs. Mole einzudringen?
    Aus meiner ungünstigen Position konnte ich mein Ebenbild im Garderobenspiegel sehen, der sich neben der Tür und gegenüber der Kommode befand. Da stand der geborene Vollstrecker, wenn ich je einen gesehen habe. Ich stellte meine Füße in die oberste Schublade (Socken und Taschentücher), breitete die Arme aus und drückte damit gegen die Decke. Der Anblick erinnerte mich an irgend etwas. Ich strich mir die Haare in die Augen und mimte eine altmodische Kreuzigungsszene unter einer Menge verblaßter und abstoßender Verzierungen an der Gipsdecke über mir. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ich sah eher aus wie Hitler bei einem seiner Tobsuchtsanfälle als wie Jesus in seinem Todeskampf.
    Warum diese Jesus-Besessenheit? Vielleicht war ich während einer früheren Existenz wirklich Jesus gewesen – als
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