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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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würde sich die Farbe der Oberfläche ganz leicht verändern; zuerst schien sie um einiges blasser zu werden und dann innerhalb von höchstens ein, zwei Augenblicken – das heißt: Meilen – in ein helles Aquamarin umzuschlagen. Etwas Ähnliches hatte ich nur selten aus einer solchen Höhe zu Gesicht bekommen: Ich nahm an, dass dieser Farbwechsel, wenn er wirklich stattgefunden und ich ihn mir nicht nur eingebildet hatte, etwas mit dem Winkel zu tun haben musste, in dem die Strahlen der Sonne auf die Wellen fielen, denn da ich einen Mittagsflug genommen hatte, stand diese höher am Himmel als gewöhnlich.
    Ich warf einen Blick auf die Karte mit den Flugrouten, die in der Tasche auf der Rückseite des Sitzes vor mir steckte; sie war in großem Maßstab gehalten und ungenau, doch konnte ich mit ihrer Hilfe unsere Position ermitteln und fand so die offenkundige Erklärung für den Farbwechsel: Wir hatten den Rand des Kontinentalschelfs erreicht. Der abgrundtiefe Ozean, über den wir hinweggeglitten waren, seitdem wir die den Westrand des europäischen Schelfs anzeigende Porcupine Bank hinter uns gelassen hatten – die man für gewöhnlich eine halbe Flugstunde nach Überfliegen der irischen Küste erreicht –, war jetzt wieder flacher geworden; der Meeresboden war angestiegen, um die ersten, noch unterseeischen Ausläufer des amerikanischen Festlands zu bilden.
    Doch ein paar Augenblicke später wurde, was mir noch ungewöhnlicher vorkam, das Wasser wieder dunkelblau, allerdings diesmal nur für eine ganz kurze Zeitspanne, bevor es sich erneut aufhellte. Es war, als wäre das Flugzeug über einen tiefen Fluss im Ozean hinweggeglitten, über eine Kluft zwischen zwei im Wasser verborgenen Hochebenen. Ich spähte unter der Tragfläche hindurch so weit in die Ferne, wie es eben ging: Von der Stelle an, an welcher die Ebene wieder begann, schien sie sich ohne Unterbrechung nach Westen fortzusetzen. Und dann erinnerte ich mich an etwas, das ich über die Meeresgeografie dieses Teils des Nordatlantiks in Erfahrung gebracht hatte. Mich hatte schon seit Langem alles interessiert, was mit dem Golfstrom zusammenhing, und ich entsann mich, dass er ganz in der Nähe verlief. Was mir jetzt wieder ins Gedächtnis kam, ließ mich zu dem Schluss gelangen, dass die zusammenhängende Ebene, die sich vor uns unter der Wasseroberfläche abzeichnete, nichts anderes als den Beginn der Grand Banks von Neufundland darstellte. Die dunkelblaue in sie eingeschnittene Rinne war als Flemish Pass bekannt. Und der erste grünlich-blaue Fleck, den ich erspäht hatte, war, wie mir plötzlich bewusst wurde, genau jener Ort, an dem wir viele Jahre zuvor auf das kanadische Rettungsflugzeug gewartet hatten – jene mir noch so lebendig in Erinnerung gebliebenen Untiefen, die Flemish Cap genannt wurden.
    1 Diese felsige kleine Insel mit dem Leuchtturm darauf, die heute vor allem dafür bekannt ist, dass sie den Wendepunkt für eine gefährliche jährlich von Südengland aus veranstaltete Regatta markiert, wird von Menschen mit Hang zur Sentimentalität »Ireland’s teardrop« genannt, weil sie das letzte Stück Heimat war, das Emigranten, die auf dem Weg nach Ellis Island im Hafen von New York waren, zu Gesicht bekamen.
    2 Mein erster Ocean-Liner hatte noch eine ganze Weile »eine Handbreit Wasser unter dem Kiel«. Er erlebte mehrere Wiedergeburten unter anderen Namen (als Queen Anna Maria , Carnivale , Fiesta Marina , Olympic und Topaz ) und wurde von unterschiedlichen Eignern zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt. Japanische Eigner setzten die ehemalige Empress of Britain als schwimmenden »Friedensbotschafter« ein, bevor sie sie schließlich 2008 zum Abwracken nach Mumbai schleppen ließen – dreiundfünfzig Jahre nachdem sie am Clyde vom Stapel gelassen und von der Queen getauft worden war.
    3 Obwohl der Ausdruck einem modern vorkommt, wurde er tatsächlich schon 1612 benutzt, und in viktorianischen Zeiten sprachen Seeleute mit bewusstem Understatement davon, »den Teich überquert« zu haben.

»Ach, wenn wir doch über den Atlantik hinwegfliegen könnten«, lautet die Überschrift über diesem am 27. April 1912, zwei Wochen nach dem Untergang der Titanic , erschienenen Schaubild. Die Gefahr einer Kollision mit einem Eisberg würde dann eliminiert werden und die Reisezeit sich drastisch reduzieren. Die Grafik verdeutlicht die Fortschritte in der »Kommunikation« zwischen Europa und Amerika. Während Mitte des 15. Jahrhunderts überhaupt keine
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