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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Hand hin und her gewendet, die Gravuren, den Tiefdruck und die Wasserzeichen studiert hatte. Er war mir in einer rot-weißen Hülle aus dicker und steifer Pappe ausgehändigt worden, in der sich eine Tasche für Gepäckanhänger mit gewachsten Befestigungsschnüren, Auf-der-Reise-nicht-benötigt- Aufklebern, Einwanderungsformularen, Zollrichtlinien und Mitteilungen befand, die vage erahnen ließen, wie sich der Tagesablauf auf See gestalten würde – 11 Uhr vormittags: Bouillon auf dem Bootsdeck war eine von denen, die sich mir am tiefsten eingeprägt haben.
    Ich glaube, dass ich eine ziemlich ungesunde emotionale Bindung an das Ticket entwickelte, da es für so viel stand – Freiheit, die Neue Welt, Abenteuer, den Atlantischen Ozean. Und als ich es an jenem Frühlingsnachmittag dem oben an der Gangway stehenden Zahlmeister hinhielt und dieser es mit nur vorgetäuschter Gelassenheit entgegennahm, muss ich ein betrübtes Gesicht gemacht haben, denn er lächelte plötzlich und gab es mir zurück. »Ihr erstes Mal?«, fragte er freundlich. »Na, behalten Sie es. Es ist ein großartiger Ozean – und Sie fahren auf einer White Empress über ihn. Nichts könnte fabelhafter sein! Sie sollten dieses Souvenir an ihre erste Überfahrt aufheben.«
    Als die Zeit zum Ablegen gekommen war, sank die blasse Sonne, die sich zwischenzeitlich gezeigt hatte, bereits wieder langsam am Horizont nieder. Wie aufs Stichwort erscholl die bekannte Aufforderung: All ashore who’s going ashore! Alle von Bord, die nicht mitfahren. Aus dem Lautsprecher dröhnte ein Ease springs! , was in der Seemannssprache »Leinen los« bedeutet; vom Ufer hörte man Rufe, auf der Brückennock und dem Vorderdeck krächzten Sprechfunkgeräte – und eine nach der anderen platschten die schweren mit Eisendraht ummantelten Schlaufen der Trossen in die Lücke zwischen Pier und Rumpf. Die Fläche öligen Wassers begann breiter zu werden, und die tropfenden Taue wurden langsam mithilfe von Winden, die unter der Last stöhnten, eingeholt. Zwei Hafenschlepper, die schon einige Jahre auf dem Buckel hatten, tauchten auf; prustend und schnaubend bugsierten sie uns in den Gezeitenstrom, wo sie uns dann in Fahrtrichtung drehten, indem sie so lange gegen unseren Rumpf stupsten, bis unser Bug nach Nordwesten wies.
    Die berühmte George Clock, eine der beiden Turmuhren auf dem Liver Building, schlug fünf. Von der Höhe des Decks herab konnte ich meinen Vater, der gerade einen Blick auf seine Armbanduhr warf, auf dem Kai sehen. Er und meine Mutter deuteten zu mir hoch – erleichtert, weil sie mich endlich in der Schar der Passagiere, die sich an der Heckreling drängten, ausgemacht hatten. Sie begannen mir zuzuwinken, und genau in diesem Augenblick ertönten zum Abschied drei Stöße aus unserem Signalhorn, die sich an den Kaimauern und den dahinterliegenden Gebäuden brachen und vielfach zurückgeworfen wurden. Die Decks der Empress begannen zu vibrieren und zu dröhnen, als die Maschinen anliefen und die Schrauben anfingen, das Wasser am Heck aufzuwühlen.
    Ich sah auf meine eigene Uhr. Sie zeigte neun Minuten nach der vollen Stunde an: Das war der genaue Zeitpunkt, zu dem die Reise offiziell ihren Anfang nahm. Die Schlepper tuckerten von uns fort. Die Empress of Britain lief endlich aus eigener Kraft voran; von den Pollern gelöst und den Schleppern befreit, frei auch von der Küste und von England, begann sie entschieden und unaufhaltsam loszudampfen, auf den weiten und tiefen Ozean zu und in ein verheißungsvolles Morgen hinein. Auf den Gesichtern einiger Passagiere, vermutlich Auswanderer, die sich in Kanada niederlassen wollten, zeichnete sich ein Anflug von Trauer ab, und ihnen standen Tränen in den Augen, während sie zum Land hinüberwinkten. Ich war aufgeregt, besorgt, nervös. Mit dem Blick verfolgte ich meine Eltern, als sie sich mit gesenkten Köpfen auf den Rückmarsch zu unserem winzig aussehenden hellbraunen Ford Prefect machten.
    Die Dunkelheit senkte sich rasch herab, und bald verschwammen die Lichter von Liverpool und Birkenhead hinter unserem Heck zu einem orangefarbenen Schimmer wie von einem verglimmenden Feuer. Bei dem berühmten Feuerschiff, dem Bar Light Vessel , irgendwo in der Höhe von Crosby am Nordufer der Merseymündung, kam das Lotsenboot längsseits, und ein Mann mittleren Alters in einem braunen Pullover und mit einer fleckigen weißen Mütze auf dem Kopf kletterte gewandt auf dessen Achterdeck hinunter. Er winkte zu uns hoch, und falls
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