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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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zum Abschied erneut mit den Tragflächen und machte sich auf den Rückflug zu seinem weit entfernten Stützpunkt. Es schrumpfte rasch zu einem winzigen Punkt und war nach wenigen Augenblicken ganz verschwunden.
    Die Motorbarkasse wurde an Deck gehievt, das Päckchen, das, wie sich herausstellte, lebenswichtige Medikamente für eine Passagierin, die auf der Krankenstation lag, enthielt, übergeben, und nach weniger als einer Stunde waren unsere Maschinen erneut zu pulsierendem Leben erwacht und wir wieder auf unserem ursprünglichen Kurs unterwegs.
    Ein trivialer Vorfall mitten auf dem Ozean, der unsere Ankunft im Hafen von Montreal, in den wir, wie geplant, zwei Tage später einliefen, nur unwesentlich verzögerte. Und doch ein Ereignis, an das ich häufig denken muss. An jene plötzliche Stille, die Leere, die enorme Tiefe unter und die grenzenlose Höhe über uns, derer man sich plötzlich bewusst wurde, an das uns umgebende uniforme Grau, an die sehr offenkundige und potenziell bedrohliche Macht der hohen Wogen und des Winds sowie an die Tatsache, dass wir schwachen Menschen es geschafft hatten, mittels unsichtbarer Radiowellen und Morsesignale von irgendeinem fernen Punkt aus Hilfe herbeizuholen. An alledem war etwas Unheimliches gewesen. Später kam ich zu der Überzeugung, dass es eine Art Omen gewesen sein muss, dass dieses kleine Drama sich auf meiner allerersten Ozeanreise abgespielt hatte.
    Der Logbucheintrag des Kapitäns zu den letzten Etappen von »Reise 115« lautete ganz lakonisch: »Bei Three Rivers Lotsen ausgetauscht. Anhaltend schönes Wetter den ganzen Sankt-Lorenz-Strom hinauf. Um 18 Uhr 31 Glockenturm passiert. Mithilfe von zwei Schleppern zum Liegeplatz geschwenkt. Bei Gebäude No. 8 um 18 Uhr 53 festgemacht. Maschinen gestoppt.« Wir hatten den Ozean in sieben Tagen, sechs Stunden und sieben Minuten überquert und waren damit trotz unseres Rendezvous mitten auf dem Meer mit einer Verspätung von gerade mal vierundfünfzig Minuten an unserem Ziel angelangt. Die Züge der englischen Eisenbahngesellschaft verkehrten zu jener Zeit in der Regel auch nicht viel pünktlicher.
    Aus reinem Zufall waren während jener sieben Tage, die wir damals an Bord verbrachten, ohne dass wir es wussten, unsichtbare Kräfte am Werk – und zwar mit einschneidenden Folgen: Dies waren die finsteren Kräfte der »Rentabilität«. Wie sich herausstellte, würde die Empress of Britain in ihrem Leben nur noch weitere acht fahrplanmäßige Atlantiküberquerungen absolvieren. Bloße sechs Monate später, im Oktober, wurde bekanntgegeben, dass das sieben Jahre alte Flaggschiff der Gesellschaft, das erst 1955, von der Queen getauft und von Fanfarenstößen begleitet, vom Stapel gelaufen war, aus dem Atlantikdienst zurückgezogen und verkauft werden würde. Der neue Eigner, eine griechische Reederei mit Sitz in Piräus, würde stattdessen mit ihm Urlauber gemächlich in der Karibik herumschippern; die Tage der rasanten Fahrten über den Atlantik waren für die Empress vorbei.
    Große Passagierschiffe hatten plötzlich aufgehört, wirtschaftlich zu sein. Die britische BOAC und die amerikanische Pan Am hatten fünf Jahre zuvor, 1958 also, regelmäßige Linienflüge zwischen Heathrow in England und Idlewild in den USA aufgenommen. Zunächst hatten die Maschinen noch in Gander auf Neufundland Zwischenlandungen zum Betanken einlegen müssen, doch dann waren sie immer effizienter geworden, und man hatte mit Flugzeugen beider Gesellschaften den Ozean nonstop überqueren können. Es hatte nicht lange gedauert, bis viele andere Luftfahrtunternehmen den gleichen Service anboten. Eines nach dem anderen waren die großen Passagierschiffe aus dem Transatlantikverkehr abgezogen worden, und diejenigen, die nicht abgewrackt wurden, hatten stattdessen angefangen, als Kreuzfahrtschiffe Dienst zu tun, und mit dazu beigetragen, etwas zu etablieren, das schnell zu einem ganz neuen Erwerbszweig auf dem Gebiet der kommerziellen Schifffahrt werden würde. 2
    Im Rückblick kann man also etwas Symbolisches darin sehen, dass ich sechs Monate später auf dem Luftweg aus Nordamerika in die Heimat zurückkehrte, und zwar genau in der Woche, in der die von dem Communiqué der Gesellschaft wie betäubte Mannschaft ihre letzte Reise mit ihrem vielgeliebten Ocean-Liner absolvierte. Hätte ich von dieser merkwürdigen Koinzidenz gewusst, dann hätte ich vielleicht nach unten geschaut, um einen Blick auf sie zu erhaschen, wie sie zum letzten Mal auf dem Weg nach
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