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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Masern erkrankte Kinder, und es gab eine leichte Verzögerung wegen irgendwelcher Quarantänebestimmungen, bis unser Kapitän, ein offensichtlich gutherziger Mann namens Thorburn, sich entschied, sie mitzunehmen –, und um die Mittagszeit herum waren wir wieder unterwegs und fuhren den Clyde Richtung See hinunter. Als wir erneut Salzwasser unter dem Kiel hatten, fielen wir nach Steuerbord ab und steuerten nach Westen, um die notorisch rauen Gewässer nördlich von Rathlin Island sicher zu umschiffen.
    Jetzt endlich hielten wir aufs offene Meer zu, und der Wellengang begann kontinuierlich und merklich stärker zu werden. Große Wogen krachten bald gegen den Bug, Monsterwellenberge, von den Frühlingsstürmen, die in den Regionen um die Britischen Inseln unaufhörlich bliesen, aufgetürmt.
    Zum Abendessen erschienen nicht sehr viele Passagiere, was angesichts des Stampfens und Schaukelns der Empress nicht verwunderte. Die wenigen von uns, die sich an jenem Abend trotz des peitschenden Regens an Deck trauten, konnten durch die dahinjagenden niedrigen Wolken hindurch die winzige Insel Inishtrahull drei Meilen backbord von uns erkennen, und zwischen ihr und uns die kleine Inselgruppe der Tor Rocks, beides Irlands nördlichste Territorien. Inishtrahull, die »Insel des leeren Strands«, markiert den Ausgangs- oder Endpunkt mancher Nordatlantiküberquerung. Durchs Fernglas konnte man verschwommen ein Häuflein verfallener Häuser und Reihen lückenhafter, alter Steinmauern ausmachen, und dann auch die schmale, an einen Stift erinnernde Silhouette des berühmten Leuchtturms, dessen Lichtstrahl bereits durch die sich verdichtende Finsternis blinzelte und von dem seit fast zwei Jahrhunderten Tausende von Schiffen verabschiedet oder willkommen geheißen worden waren.
    Von diesem Ort an lag nur noch die offene See vor uns, weit, unendlich und namenlos. Unsere Route sollte uns in einem großen sanften Bogen über fast zweitausend Meilen hinweg zu einem Punkt führen, der schon das noch weiter voraus liegende Territorium der Neuen Welt erahnen ließ – zu den berüchtigten, sich nur wenig unter der Wasseroberfläche entlangziehenden Felsenbänken der Virgin Rocks vor der Küste von Neufundland. Diese Untiefen waren mir noch aus der englischen Literatur bekannt: Kipling hatte in seinem Roman Captains Courageous (Fischerjungs) über die Fischer geschrieben, die dort ihrem Gewerbe nachgingen. »Legionen von Kabeljauen strichen da unten feierlich über die lederartigen Tangbüschel hin«, hieß es in seinem Buch, und auch, dass die großen Fischschwärme für gewöhnlich in dem flachen Wasser gut sichtbar waren.
    Wenn alles nach Plan lief und wir unsere Reisegeschwindigkeit von zwanzig Knoten beibehielten – die unsere Maschinen problemlos schafften –, würden wir in der Nacht des Montags die Virgin Rocks erreichen, bald danach den Leuchtturm auf Cap Race am südlichen Zipfel Neufundlands zu Gesicht bekommen und dann, nachdem wir uns vorsichtig den Sankt-Lorenz-Strom hinaufgeschlängelt hatten, am Dienstag so zeitig in den Hafen von Montreal einlaufen, dass wir zum Abendessen schon wieder festen Boden unter den Füßen haben würden.
    Und so sollte es dann auch ablaufen. Für die Männer auf der Brücke war die »Reise 115« im Grunde nur eine weitere routinemäßige Überfahrt. Für mich, den kleinen Novizen in Sachen Ozeanreise, war sie zunächst einmal aus dem einfachen Grund denkwürdig, dass sie über diese riesige Wasserfläche hinwegführte. Wir erlebten unterwegs einiges Spektakuläre, auch Stürme, das für mich persönlich nervenaufreibend war. Wir hatten fast die gesamte Zeit über die See ganz für uns allein und begegneten nur einem einzigen anderen Schiff, obwohl wir uns auf einem gebräuchlichen Seeweg befanden, und ein beklemmendes Gefühl von Einsamkeit machte mir mehr als nur ein bisschen zu schaffen. Als wir dann über die Virgin Rocks hinwegfuhren, herrschte Dunkelheit, so dass ich die Kabeljauschwärme nicht zu Gesicht bekam. Doch es ereignete sich nichts wirklich erschütternd Ungewöhnliches – bis zu jener schon erwähnten Unterbrechung unserer Fahrt, jenem kurzen Augenblick, der mir vielleicht lebhafter in Erinnerung geblieben ist, als er es eigentlich verdiente. Es geschah, als wir mit gestoppten Maschinen in den flachen atlantischen Gewässern bei Flemish Cap lagen.
    Der Morgen hatte gerade eben gedämmert, und es war bitterkalt. Da wir uns zu Beginn des Frühjahrs in Gewässern befanden, in denen
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