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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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einst die Titanic unterwegs gewesen war und die arktischen Eisflächen gefährlich nahe lagen, hielten die Männer der Besatzung immer wachsam Ausschau nach Eisbergen oder großen Eisschollen. Bislang hatten sie nichts Derartiges entdeckt; und was die für die Schiffsführung zuständigen Offiziere betraf, war es eine vollkommen normale Fahrt gewesen. Wir waren auch nicht in einen jener Nebel geraten, für die dieser Teil des Ozeans gefürchtet ist, in dessen Nähe die Labradorströmung und der Golfstrom sachte und unsichtbar aufeinandertreffen und das Sichvermischen von tropisch-warmen und arktisch-kalten Wassermassen dazu führen kann, dass sich die Luft darüber zu einer grauen Suppe verdichtet, die sich erst nach Tagen wieder auflöst. An jenem besonderen Tag war das aber nicht so, und mehr als ein Mensch sollte Grund haben, dafür dankbar zu sein.
    Ich war aus irgendeinem Anlass in aller Frühe aufgestanden und, bis zu den Ohren dick eingemummelt, schon vor dem Frühstück ins Freie gegangen, wo ich auf dem Bootsdeck hin und her schlenderte. Es schien alles im Lot zu sein: Wir preschten in einem respektablen Tempo voran, hinter uns war es schon hell, vor uns breitete sich noch Dunkelheit aus. Plötzlich jedoch begannen Glocken zu läuten, und Matrosen schwärmten die Niedergänge herauf und eilten über das Deck. Die Schrauben hörten auf, sich zu drehen; die Empress verlor an Fahrt, und binnen kürzester Zeit wurde es ganz still. Erst trieben wir noch ein Stück weiter, dann kamen wir zu einem Halt. An die Stelle des ruhigen und stetigen Gleitens Richtung Westen trat ein schwerfälliges, plumpes Rollen. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte sich jetzt fast ganz erschöpft, doch eine steife Brise pfiff noch von Westen her durch die Antennen und Kranarme über unseren Köpfen. Es würde nicht lange dauern, dachte ich, bis der Wind uns wieder in die Richtung zurückdrängen würde, aus der wir gekommen waren.
    Hier, am äußeren Rand des amerikanischen Kontinentalschelfs, schienen die Wasseroberfläche und der Himmel darüber wie leer gefegt zu sein, kein Vogel und auch kein anderes Lebewesen war zu sehen. Die See war aber recht rau, und während sich eine Art Lähmung über das ganze Schiff gesenkt zu haben schien, ging es um uns herum sehr lebhaft zu; die Wellen peitschten genau wie der Wind heftig gegen den Rumpf.
    Nach ein paar Augenblicken wurde direkt voraus ein Geräusch laut, zunächst nur ein niederfrequentiges Surren, dann ein Summen, bis man schließlich erkannte, dass es sich um das Brummen eines Motors handelte – eines Flugzeugmotors. Ich konnte die wachhabenden Offiziere oben auf der Brückennock sehen, die alle wie ein Mann ihre Ferngläser nach Westen richteten, von wo das Geräusch kam, und angespannt in den immer noch halb dunklen Himmel spähten. Bald erklang ein Schrei: Einer von ihnen hatte das Flugzeug ausgemacht. Ein paar Minuten später sahen wir alle es: zunächst nur ein einziges stecknadelkopfgroßes Licht, aus dem dann zwei wurden, bis man schließlich die Silhouette einer Propellermaschine erkannte, deren Nase in der fahlen Sonne matt aufleuchtete. Als sie näher herangekommen war, ließ sie sich schnell herabsinken, eine große Maschine, hinter deren beiden dröhnenden Motoren Rauchfahnen herzogen, als sie über uns eine Schleife flog und mit den Tragflächen wackelte. Die runden Kokarden der Royal Canadian Air Force waren deutlich auf dem Rumpf zu erkennen.
    Dann folgten die Ereignisse einander sehr rasch. Vom hinteren Teil des Bootsdecks drang das Kreischen von rostigen Drehzapfen und Hebebäumen herüber, und anschließend hörte man ein lautes Klatschen, als die Motorbarkasse der Empress zu Wasser gelassen wurde. Das Boot brauste sofort auf den Ozean hinaus, stoppte dann und blieb ungefähr eine Meile von uns entfernt auf den Wogen dümpelnd liegen. Sobald es diese Position erreicht hatte, schoss das Flugzeug heran, beschrieb einen Bogen, öffnete die Landeklappen und verlangsamte seine Geschwindigkeit, um direkt über der kleinen Barkasse hinwegzugleiten. Dabei warf es etwas ab, das an einem kleinen orangefarbenen Fallschirm befestigt auf die Wasseroberfläche niedersank. Ein Matrose fischte es mit einem Bootshaken aus den Wogen, und nachdem der Bootssteurer mit einem Daumen-nach-oben-Zeichen in Richtung Flugzeug signalisiert hatte, dass alles glattgegangen war, warf er den Motor wieder an und begann zu uns zurückzukehren. Das Flugzeug stieg wieder in den Himmel auf, wackelte
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