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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition)
Autoren: Joe Hill
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FCI Englewood, Colorado
    S chwester Thornton betrat die Dauerpflegestation kurz vor acht mit einem Beutel warmem Blut für Charlie Manx.
    Sie hatte komplett auf Autopilot geschaltet und war mit den Gedanken ganz woanders. Sie hatte sich endlich dazu durchgerungen, ihrem Sohn Josiah den Nintendo DS zu kaufen, den er sich wünschte, und überlegte, ob sie es noch schaffen könnte, nach Schichtende zu Toys ’R’ Us zu fahren, bevor der Laden zumachte.
    Aus philosophischen Gründen hatte sie sich einige Wochen lang gegen den Kauf des Nintendos gesträubt. Dass Josiahs Freunde auch alle einen hatten, zählte für sie nicht. Diese tragbaren Spielkonsolen, die die Kids überall mit hinnahmen, fand sie einfach furchtbar. Ihr gefiel es nicht, wie die kleinen Jungs in den leuchtenden Bildschirmen verschwanden und die Wirklichkeit durch eine imaginäre Welt ersetzten, wo man end- und geistlos Spaß hatte und das Rumballern zur Kunstform erhoben wurde. Sie hatte sich immer ein Kind gewünscht, das gern las und Scrabble spielte und mit ihr auf Schneeschuhtouren ging. Tja, Pustekuchen!
    Eine Zeit lang war Ellen eisern geblieben, doch dann hatte sie Josiah gestern Nachmittag dabei beobachtet, wie er auf seinem Bett saß und mit einem alten Portemonnaie spielte, als wäre es ein Nintendo DS . Er hatte ein Bild von Donkey Kong ausgeschnitten und es in das Plastiksichtfach gesteckt, wo normalerweise Fotos aufbewahrt wurden. Er hatte imaginäre Knöpfe gedrückt und Explosionsgeräusche dazu gemacht. Und es hatte ihr im Herzen wehgetan, ihn so zu sehen – wie er sich im Geist schon ausmalte, mit etwas zu spielen, was er am großen Tag zu bekommen hoffte. Ellen hatte ihre Ansichten darüber, was für kleine Jungs gut war und was nicht. Aber das hieß nicht, dass der Weihnachtsmann sie teilen musste.
    Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass ihr gar nicht auffiel, dass mit Charlie Manx etwas nicht stimmte – bis sie um sein Bett herumging, um zu dem Tropf zu gelangen. In diesem Moment stieß er nämlich einen schweren Seufzer aus, so als wäre er gelangweilt, und sie blickte auf ihn hinab und bemerkte, dass er sie ansah. Sie war so überrascht, ihn mit offenen Augen zu sehen, dass ihr beinahe die Blutkonserve aus der Hand gefallen wäre.
    Er sah furchtbar alt aus und auch sonst einfach ziemlich furchtbar. Der große kahle Schädel erinnerte an das Modell eines fremden Mondes, auf dem Altersflecken und dunkle Sarkome die Kontinente bildeten. Es war besonders schrecklich, dass von all den Männern auf der Dauerpflegestation – dem Gemüsebeet, wie es die Pfleger nannten – ausgerechnet Charlie Manx kurz vor Weihnachten die Augen öffnete. Manx hatte Kinder gemocht. In den Neunzigern hatte er Dutzende von ihnen entführt. Er besaß ein Haus am Fuß der Flatirons, wo er seine Spielchen mit ihnen getrieben, sie dann umgebracht und Weihnachtsschmuck aufgehängt hatte, der an sie erinnern sollte. Die Zeitungen nannten ihn den Weihnachtsmörder und sein Haus das Sleigh House. Ho, ho, ho.
    Meistens gelang es Ellen, bei der Arbeit ihre mütterliche Seite auszublenden und nicht daran zu denken, was Charlie Manx den kleinen Jungen und Mädchen, die ihm in die Hände gefallen waren, wahrscheinlich angetan hatte – Jungen und Mädchen, die kaum älter waren als ihr Josiah. Normalerweise vermied sie es tunlichst, sich irgendwelche Gedanken über ihre Patienten zu machen. Der Mann auf der anderen Zimmerseite hatte seine Freundin und ihre zwei Kinder gefesselt, das Haus in Brand gesteckt und sie den Flammen überlassen. Er wurde in einer Bar am Ende der Straße festgenommen, wo er Bushmills getrunken und sich ein Spiel der White Sox gegen die Rangers angesehen hatte. Darüber nachzudenken hatte einfach keinen Sinn, weshalb Ellen sich angewöhnt hatte, ihre Patienten lediglich als Anhängsel der medizinischen Apparaturen zu betrachten, mit denen sie verbunden waren: menschliche Peripheriegeräte.
    In all ihrer Zeit als Krankenschwester im Hochsicherheitsspital des FCI Englewood hatte sie Charlie Manx noch nie mit offenen Augen gesehen. Drei Jahre lang hatte er durchgängig im Koma gelegen. Er war der gebrechlichste ihrer Patienten – nur Haut und Knochen. Sein EKG -Monitor piepte wie ein Metronom, das auf die niedrigstmögliche Geschwindigkeit eingestellt war. Der Arzt sagte, er zeige so viel Gehirnaktivität wie eine Dose Mais. Niemand kannte sein wahres Alter, aber er sah älter aus als Keith Richards. Dem er im Übrigen sogar ein wenig
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