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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition)
Autoren: Joe Hill
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würde den Armreif holen, zurückkehren und ihn zwischen ihren Eltern aufs Bett werfen. Dann würde sie ohne ein Wort das Zimmer verlassen, und die beiden würden sich peinlich berührt anschauen. Hauptsächlich aber drehte sich dieser Traum um das Motorrad selbst, wie sie damit Kilometer um Kilometer hinter sich ließ, bis das letzte Tageslicht am Himmel schwand.
    Sie fuhr aus dem Schatten des Nadelwaldes hinaus auf die breite Schotterstraße, die zur Brücke führte. Shortaway wurde die Straße von den Einheimischen genannt, alles ein Wort.
    Als V ic sich der Brücke näherte, sah sie, dass der Maschendrahtzaun nicht mehr da war. Das Drahtgeflecht war von den Pfosten gerissen worden und lag auf dem Boden. Der Eingang, gerade breit genug für ein einzelnes Auto, wurde von Efeuranken eingerahmt, die sich sanft in dem Luftzug bewegten, der vom Fluss unter der Brücke aufstieg. Im Inneren der Brücke befand sich ein rechteckiger Tunnel, der zu einem unglaublich hellen Quadrat führte – als würde die Brücke in einem Tal voller goldener Weizenfelder oder reinem Gold enden.
    V ic wurde langsamer – aber nur für einen Moment. Das schnelle Radeln hatte sie in einen Rauschzustand versetzt. Und als sie weiterzufahren beschloss, über den Zaun hinweg, in die Dunkelheit hinein, stellte sie diesen Entschluss nicht mehr wirklich infrage. Wenn sie jetzt anhielt, hieße das zu kneifen. Und das würde sie nicht. Außerdem vertraute sie auf ihre Schnelligkeit. Sollten unter ihr Bretter zu brechen beginnen, würde sie einfach weiterfahren und das verrottete Holz hinter sich lassen, ehe es nachgeben konnte. Und sollte im Tunnelinneren irgendjemand lauern – ein Obdachloser, der es auf kleine Mädchen abgesehen hatte –, würde sie an ihm vorbei sein, ehe er auch nur blinzeln konnte.
    Die V orstellung von brechendem altem Holz oder einem Penner, der nach ihr griff, erfüllte sie mit einem angenehmen Gruseln. Anstatt anzuhalten, stand sie auf und radelte nur noch schneller. Und wenn die Brücke zehn Stockwerke tief in den Fluss stürzte und sie unter dem Schutt begraben wurde, dachte sie mit einer gewissen Befriedigung, dann wäre es die Schuld ihrer Eltern, die sie mit ihren Streitereien aus dem Haus getrieben hatten. Das würde ihnen eine Lehre sein. Sie würden sie schrecklich vermissen und vor Trauer und Schuldgefühlen ganz krank werden. Aber genau das hatten sie verdient, sie beide.
    Der Maschendraht ratterte unter ihren Reifen. Sie tauchte in eine unterirdische Dunkelheit ein, die nach Fledermäusen und Fäulnis roch.
    Als sie auf die Brücke fuhr, sah sie, dass zu ihrer Linken jemand etwas in grüner Farbe an die Wand gesprüht hatte. Sie wurde nicht langsamer, um es zu lesen, aber sie glaubte, das Wort TERRY’S zu erkennen. Komisch, in einem Restaurant namens Terry’s hatten sie heute zu Mittag gegessen – Terry’s Primo Subs in Hampton, New Hampshire, direkt am Meer. Es befand sich auf halbem Wege zwischen dem Winnipesaukee und Haverhill, und auf der Rückfahrt vom See machten sie meistens dort halt.
    Im Inneren der überdachten Brücke klang alles anders. Sie hörte den Fluss dreißig Meter unter sich, aber es hörte sich weniger wie Wasser an, eher wie weißes Rauschen, Störgeräusche im Radio. Sie blickte nicht nach unten, aus Angst, zwischen den Lücken in den Bodenbrettern den Fluss zu sehen. Sie schaute nicht mal nach links und rechts, sondern hielt ihren Blick starr auf das ferne Ende der Brücke gerichtet.
    Hin und wieder fuhr sie durch einen Strahl weißen Lichts. Immer wenn sie die waffeldünnen Schichten aus Helligkeit passierte, spürte sie ein dumpfes Pochen in ihrem linken Auge. Der Boden unter ihr wirkte unangenehm nachgiebig. Sie wurde nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht, zwei Worten: fast da, fast da, die ihr im Rhythmus der Pedale durch den Kopf gingen.
    Das Quadrat am Ende der Brücke wurde immer größer und heller. Eine fast brutale Hitze schien von ihm auszugehen. Unerklärlicherweise roch es nach Sonnencreme und Zwiebelringen. Es kam ihr nicht in den Sinn, sich darüber zu wundern, warum es am anderen Ende der Brücke keine Absperrung gab.
    V ic McQueen, alias das Gör, holte tief Luft und fuhr aus der Shorter Way Bridge hinaus ins gleißende Sonnenlicht. Die Reifen ratterten vom Holz herunter auf Teerbelag. Das Zischen des weißen Rauschens endete abrupt, als hätte jemand den Stecker eines Radios gezogen.
    Sie rollte ein paar Meter weiter, bevor sie sah, wo sie sich befand. Ihr
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