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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Verbindung bestand, brauchte man im 17. Jahrhundert 40 bis 50 Tage, um die gewaltige Entfernung zu überbrücken; mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt schmolz diese Zeit dann schließlich auf zirka vier Tage zusammen. Der Wunsch, auf dem Luftweg in einem einzigen Tag von einem Kontinent auf den anderen gelangen zu können, sollte sich schon in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erfüllen.

Fast ein halbes Jahrhundert war vergangen, seit ich Flemish Cap zum ersten Mal gesehen und gebannt das Herannahen der Maschine der Canadian Air Force mitverfolgt hatte. Es mag auch daran gelegen haben, dass ich noch jung und leichter zu beeindrucken gewesen war, doch ich hatte jede Einzelheit dieses kurzen, für mich so faszinierenden Zwischenfalls gierig in mich aufgesogen. Und später, nachdem unser Schiff weiter Richtung Westen gelaufen war, hatte ich weitere Details erfahren, solche, die das Ganze für mich auch noch mit einem bedeutenden historischen Ereignis verknüpft hatten. Ein freundlicher Deckoffizier der Empress erzählte mir, dass die Hilferufe, die wir in der Nacht zuvor abgesetzt hatten, von einem Stützpunkt der US-Küstenwache in einer kleinen Hafenstadt namens Argentia aufgefangen worden waren. In der Schule hatten sie uns beigebracht, dass es genau dort, in den Gewässern vor Argentia, 1941 an Bord des Schlachtschiffs Prince of Wales zu dem Treffen zwischen Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt gekommen war, bei dem die beiden Staatsoberhäupter die Atlantik-Charta verabschiedet hatten, die das Nachkriegsgeschehen so nachhaltig beeinflusst hatte. Dass wir beigedreht mitten auf dem Ozean gelegen hatten und doch über Funk mit einem Ort verbunden gewesen waren, der in der Geschichte eine so große Rolle gespielt hatte, machte den ganzen Zwischenfall noch denkwürdiger für mich und trug mit dazu bei, dass er sich unauslöschlich in mein Gedächtnis einbrannte.
    Jetzt aber war derselbe Ort im Ozean, flüchtig von einem in großer Höhe über ihn hinwegfliegenden Flugzeug aus wahrgenommen, zu einer Fläche grünlich-blassen, ungleichmäßig gefärbten Wassers geworden, die eigentlich nur Ungemach bereitete, indem sie nämlich die Reise zum Bestimmungsort verlängerte. Wie traurig, dachte ich, dass ein von mir so lebhaft erinnerter Ort sich so rasch in wenig mehr als einen Abschnitt der Gesamtstrecke verwandelt hatte und man ihn nur unter dem Aspekt der zum Ziel zurückzulegenden Entfernung betrachtete.
    Doch halt! Hatte nicht die Welt im Allgemeinen begonnen, den gesamten Ozean unter diesem Aspekt zu sehen? Assoziierten die meisten Menschen mit dem Ozean heutzutage nicht einfach nur eine zu überbrückende große Entfernung? Nahmen wir ihn nicht jetzt alle für etwas ganz Gewöhnliches, Normales, dieses Gewässer, das noch bis in die – relativ gesehen – jüngste Zeit hinein, vor allenfalls fünfhundert Jahren, von Seeleuten, die den Versuch, es zu überqueren, noch nicht gewagt hatten, mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Schrecken und Staunen betrachtet worden war? Hatte nicht ein Meer, das einst wie eine scheinbar unüberwindliche Barriere zu anderen Territorien und Ländern – Japan, Ostindien, den Gewürzinseln, dem Orient – erschienen war, sich nicht im Eiltempo in einen praktischen Transportweg zu den Reichtümern und Wundern der Neuen Welt verwandelt? Hatte unsere Einstellung zu diesem Ozean sich nicht radikal geändert? War an die Stelle des Eingeschüchtertseins durch das Unbekannte und Beängstigende nicht die Gleichgültigkeit getreten, die wir gegenüber dem Gewöhnlichen und Vertrauten an den Tag legen?
    Und war dieser Wechsel unserer Einstellung zum Atlantik nicht gleichzeitig in irgendeiner Weise an das ständige Anwachsen seiner Bedeutung gekoppelt gewesen, hatte aber gewissermaßen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis dazu gestanden? Denn es stimmte doch, er war über die Jahrhunderte hinweg zu wenig mehr als einer Brücke, einem Verbindungsweg geworden, hatte sich aber auch zu einem Drehpunkt des wichtigen Geschehens in der modernen Welt entwickelt, zu einem Zentrum, um das herum sich Macht und Einfluss lange Zeit verteilt hatten. Wenn das Mittelmeer der Binnensee der klassischen Zivilisation gewesen war, war der Atlantik nach und nach an seine Stelle getreten und der Binnensee der westlichen Zivilisation geworden. Der Geograf und Geografiehistoriker Donald W. Meinig äußerte sich 1986 zu dieser allgemein wahrgenommenen neuen Rolle des Atlantiks; dieser Ozean, meinte
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