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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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er, sei insofern unvergleichlich, als die alten Stätten der Kultur in seinem Osten lägen, er eine lang gestreckte, Expansion zulassende Grenze im Westen besitze und eine lange zusammenhängende afrikanische Küste. Der Atlantik liegt quasi wie zentriert zwischen den Blöcken der Macht und des kulturellen Einflusses, die die moderne Welt geprägt haben. Er ist eine Entität, welche diese Blöcke verbindet und auf eine nicht genau zu benennende und bestimmende Weise auch definiert.
    Es war Walter Lippmann, der im Jahr 1917 als Erster die Vorstellung von einer Atlantischen Gemeinschaft in Umlauf brachte. In einem berühmten Essay in der Zeitschrift The New Republic definierte er diese Gemeinschaft als den Kern »jenes Geflechts tiefgehender Interessen, das die westliche Welt miteinander verknüpft«. Heute erkennen wir die Existenz dieser Gemeinschaft, und wenn wir auch nicht genau verstehen, was sie ausmacht, oder sicher sind, wer uneingeschränkt, als Vollmitglied gewissermaßen, zu ihr gehört, ist es doch klar, dass es sich – trotz der Ansprüche, die Indien, China und Japan bald geltend machen werden – um eine Gruppe von Ländern und Zivilisationen handelt, der es, zumindest vorläufig noch, gelingt, das wesentliche Geschehen auf unserem Planeten zu steuern.
    Diese Gemeinschaft – was auch immer man unter diesem Terminus verstand oder versteht – schloss zunächst einfach nur die nördlichen Länder an den Ufern des Atlantiks ein, das heißt zum einen die westeuropäischen Staaten, zum anderen die USA und Kanada. In jüngerer Zeit sind sowohl Lateinamerika als auch jener Flickenteppich von Ländern an der west- und zentralafrikanischen Atlantikküste in die so immer bunter werdende Mischung einbezogen worden. Die Einwohner von Brasilien und Botswana, Guyana und Liberia, Uruguay und Mauretanien sind heutzutage genauso unbestritten Mitglieder der Atlantischen Gemeinschaft, wie es bereits seit einer langen Reihe von Jahren die Menschen jener Länder gewesen sind, die in viel offenkundigerer oder augenfälligerer Weise in Beziehung zum Atlantik stehen: Länder wie Island und Grönland, Mexiko, Portugal, Irland, Frankreich und Großbritannien. Tatsächlich ist die Gemeinschaft sogar noch sehr viel größer und umfassender, wie mir im Folgenden hoffentlich nachzuweisen gelingt.
    Und doch widerfährt dem Meer, das diese Millionen von Menschen und Hunderte von Kulturen und Zivilisationen verbindet, diesem S-förmigen Gewässer mit einer Gesamtfläche von mehr als hundertsechs Millionen Quadratkilometern, das man in der westlichen Hemisphäre gewöhnlich Atlantischer Ozean nennt und das auf der östlichen Halbkugel als Great Western Sea bekannt ist, die Schmach, ignoriert zu werden. Man kann von diesem Ozean mit Fug und Recht sagen, dass viele Menschen ihn sehenden Auges übersehen: Er ist ganz offenkundig da, wird aber in vielfacher Beziehung überhaupt nicht bemerkt.
    Dabei ist er unbestreitbar äußerst evident. »Selbst wenn wir eine Satellitenstation im All aufhängen«, schrieb der amerikanische Historiker Leonard Outhwaite 1957, als der erste Sputnik auf seine Bahn gebracht wurde, »oder wenn wir auf dem Mond landen, wird der Atlantische Ozean immer noch das Zentrum unserer Welt bilden.«
    Nicht alle Gewässer sind so erkennbar lebendig wie der Atlantik. Einige große Binnenseen, die in topografischer Hinsicht wichtig und in seefahrerischer anspruchsvoll sind oder auch in der Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt haben, wirken trotz allem merkwürdig erstarrt und jeder wahrnehmbaren Vitalität beraubt. Vom Schwarzen Meer zum Beispiel geht etwas Moribundes, Lebloses aus; auch das in einen Dunst aus ockerfarbenem Wüstensand gehüllte Rote Meer scheint sich ständig an der Schwelle zwischen Leben und Tod zu befinden; sogar das Korallenmeer und das Japanische Meer erwecken beide, schön und friedvoll, wie sie sind, den Eindruck, jeden wahren ozeanischen Lebens beraubt zu sein, und kommen einem seltsam matt und kraftlos vor.
    Doch der Atlantik ist mit Sicherheit eine mit Leben erfüllte Entität – und zwar mit einem ungestümen. Er ist ständig in Bewegung. Er bringt alle erdenklichen Arten von Geräuschen hervor – pausenlos brüllt, donnert, braust, schäumt, plätschert er. Man könnte meinen, er versuche, Atem zu schöpfen – weit draußen drängt sich dieses Gefühl vielleicht nicht so sehr auf, doch dort, wo er auf Land trifft und seine Wellen einen Kiesstrand hinaufspülen und wieder
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