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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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zusammengestellt worden war. Er hatte die von ihm ausgewählten Gedichte in sieben separate Abschnitte gegliedert, von denen jeder einen der sieben Lebensabschnitte des Menschen repräsentieren sollte, die Jacques in dem bekannten Monolog »All the world is but a stage …« (»Die ganze Welt ist eine Bühne …«) in Shakespeares As you like it ( Wie es euch gefällt ) auflistet. Als ich die Sammlung eines Tages wieder in die Hand nahm, wurde mir klar, dass genau diese Struktur sich auch dazu anbot, den »menschlichen Aspekt« der Geschichte des Atlantiks darzustellen. Es war genau der geeignete Aufbau für das Buch, das ich zu schreiben vorhatte. Mit seiner Hilfe könnte ich alle Themen, die ich behandeln wollte, in Akteure verwandeln, die einer nach dem anderen die Gelegenheit erhalten würden, ihre Rollen, von der des kleinen Kindes bis hin zu der des Greises, zu spielen.
    Hier sind die einzelnen, jeweils einen Lebensabschnitt repräsentierenden »Rollen«, die Jacques in seiner berühmten Rede aufführt:
    Den Anfang macht:
    … das Kind,
    Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt.
    Dann kommen:
    Der weinerliche Bube, der mit Ranzen
    Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke
    Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte,
    Der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied
    Auf seiner Liebsten Brau’n; dann der Soldat
    Voller toller Flüch’ und wie ein Pardel bärtig,
    Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln,
    Bis in die Mündung der Kanone suchend
    Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter
    Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft,
    Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,
    Voll weiser Sprüch’ und neuester Exempel
    Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter
    Macht den besockten, hagern Pantalon,
    Brill’ auf der Nase, Beutel an der Seite;
    Die jugendliche Hose, wohl geschont,
    ’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;
    Die tiefe Männerstimme, umgewandelt
    Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt
    In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem
    Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,
    Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen,
    Ohn’ Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.
    Kleines Kind, Schuljunge, Liebhaber, Soldat, Richter, hagerer Pantalon und schließlich wieder kleines Kind – das sind die Phasen, in denen sich das Leben des Menschen vollzieht. Eine solche Einteilung vorzunehmen kam mir plötzlich als idealer Ansatz für mein Buch vor. Wenn man die einzelnen Stadien unserer Beziehung mit dem Ozean zu den menschlichen Lebensphasen in Relation setzte und den jeweils dominierenden Aspekt behandelte, schien diese Beziehung sich nicht nur umfassend, sondern auch überschaubar darstellen zu lassen.
    Im ersten Abschnitt zum Beispiel könnte ich darüber berichten, wie im Menschen erstmals ein, noch nahezu kindliches, Interesse für das Meer erwachte. Im zweiten würde sich dann untersuchen lassen, wie sich aus dieser Anfangsneugier heraus Wissbegierde entwickelte, wie man zur systematischen Erkundung des Ozeans überging und Informationen über ihn zusammentrug und weitergab – und dabei könnte ich gleichzeitig die Geschichte dieser gelehrten oder wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihm untersuchen, ein Vorgehen, das sich ähnlich auch in allen anderen Abschnitten anwenden ließ, so dass jeder von ihnen auch in sich chronologisch strukturiert sein würde. Im dritten Abschnitt, der dem Verliebten gehört, würde ich dann den Liebesaffären mit dem Ozean nachgehen können, zu denen der Mensch sich über die Jahrhunderte hinweg hat verführen lassen und die er mithilfe von bildender Kunst oder Lyrik, Architektur oder erzählender Literatur mit ihm unterhalten hat.
    Im vierten Abschnitt, der im Zeichen des Soldaten steht, würde ich anschließend über die Streitigkeiten und Konflikte berichten können, die die Wogen des Atlantiks so oft getrübt haben, davon, wie die rohe Gewalt der Waffen über die Zeiten hinweg Menschen zur Migration gezwungen hat, wie Kriminalität auf hoher See um sich griff und die Kriegsmarinen bestimmter Länder darauf reagiert haben, wie Schlachten ausgetragen und wie Seehelden geboren wurden.
    Im fünften Abschnitt, der dem wohlgenährten Richter gewidmet ist, könnte ich beschreiben, wie Gesetz und Ordnung langsam die Oberhand gewannen, der Handel blühte und kleine Trampschiffe und große Dampfer den Ozean bald in alle Richtungen durchkreuzten, ein dichtes Netz aus Unterseekabeln geknüpft wurde und Düsenflugzeuge über ihn hinwegeilten – alles um des Profits und der
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