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Der Atem des Jägers

Titel: Der Atem des Jägers
Autoren: Deon Meyer
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Das Sandpapier ratschte rhythmisch auf und ab.
    »Tradition«, wiederholte er.
    »Davon gibt es nicht viele heutzutage. Nicht viele.«
    »Warum machen Sie auch lange Speere?«
    »Auch sie gehören zu unserer Geschichte.«
    Er wandte sich einem Bündel mit kürzerem Schaft zu. Seine Finger strichen über die Klingen – er suchte nach einer bestimmten
     Form, einem speziellem Gleichgewicht. Er zog einen heraus, prüfte ihn, steckte ihn zurück und nahm einen anderen.
    »Was wollen Sie mit einem Assegai?« fragte der alte Mann.
    Er antwortete nicht sofort, denn seine Finger hatten den richtigen gefunden. Er lag gut in seiner Hand.
    »Ich gehe jagen«, sagte er. Als er aufschaute, sah er große Zufriedenheit im Blick des Graubartes.
     
    »Als ich neun wurde, schenkte meine Mutter mir ein paar Platten zum Geburtstag. Eine Schachtel mit zehn Singles und dazu ein
     Buch mit Bildern von Prinzessinnen und guten Feen. Darin standen Geschichten, und zu jeder Geschichte gab es mehr als ein
     Ende – drei oder vier. Ich weiß nicht genau, wie es funktionierte, aber jedes Mal, wenn man sich das anhörte, sprang die Nadel
     zu einem von mehreren Schlüssen. Eine Frau erzählte die Geschichten. Auf englisch. Wenn das Ende unglücklich war, spielte
     ich die Geschichte noch einmal, bis sie richtig zu Ende ging.«
    Sie war nicht sicher, warum sie das erzählt hatte, und der Priester fragte: »Aber das Leben funktioniert nicht so?«
    »Nein«, sagte sie, »Das Leben funktioniert nicht so.«
    Er rührte in seinem Tee. Sie saß da mit der Tasse im Schoß, beide Füße nun auf dem Boden, und die Szene schien aus einem Theaterstück
     zu stammen, das sie ansahen: Die Frau und der Priester tranken Tee in seinem Arbeitszimmer aus |36| feinem weißen Porzellan. Es war so normal. Sie könnte ein Mitglied seiner Gemeinde sein, unschuldig, auf der Suche nach Lebensratschlägen.
     Vielleicht über eine Beziehung? Mit einem jungen Farmer? Er schaute sie väterlich an, und sie wußte: Er mag mich, er findet
     mich okay.
    »Mein Vater war bei der Armee«, sagte sie.
    Er nippte an seinem Tee, um die Temperatur einzuschätzen.
    »Er war Offizier. Ich wurde in Upington geboren; damals war er Captain. Meine Mutter war zuerst Hausfrau. Später arbeitete
     sie in einer Anwaltskanzlei. Manchmal war er lange Zeit weg von zu Hause, aber daran erinnere ich mich nicht wirklich, denn
     ich war noch klein. Ich bin die Älteste; mein Bruder wurde zwei Jahre nach mir geboren. Gerhard. Christine und Gerhard van
     Rooyen, die Kinder von Captain
Rooies
und Mrs. Martie van Rooyen aus Upington.
Rooies
hieß er bloß wegen seines Nachnamens, so ist das bei der Armee, jeder hat einen Spitznamen. Mein Vater sah gut aus, er hatte
     schwarzes Haar und grüne Augen – ich habe meine Augen von ihm. Und mein Haar von meiner Mutter, also werde ich wahrscheinlich
     früh ergrauen, so ist das mit blonden Haaren. Es gibt Fotos von ihrer Hochzeit, da trug sie ihr Haar auch lang. Aber später
     schnitt sie es ab. Sie sagte, es wäre wegen der Hitze gewesen, aber ich glaube, es war wegen meines Vaters.«
    Er schaute sie an, ihren Mund. Hörte er ihr zu, hörte er ihr wirklich zu? Sah er sie so, wie sie war? Würde er sich später
     erinnern, wenn sie ihren großen Betrug enthüllte? Sie schwieg einen Moment, hob die Tasse an die Lippen, nippte, sagte unsicher:
     »Es wird lange dauern, Ihnen alles zu erzählen.«
    »Zeit gehört zu den Dingen, von denen wir hier viel haben«, sagte er ruhig. »Wir haben viel Zeit.«
    Sie deutete zur Tür. »Sie haben eine Familie, und ich …«
    »Sie wissen, daß ich hier bin und daß ich meine Arbeit tue.«
    »Vielleicht sollte ich morgen wiederkommen.«
    »Erzählen Sie Ihre Geschichte, Christine«, sagte er leise. »Legen Sie die Last ab.«
    »Sicher?«
    |37| »Absolut.«
    Sie schaute hinunter auf ihre Tasse. Sie war noch halb voll. Sie hob sie, trank sie aus, stellte sie auf die Untertasse und
     stellte beides auf das Tablett auf dem Schreibtisch. Sie zog ihr Bein wieder unter sich und legte die Arme über Kreuz. »Ich
     weiß nicht, wieso es schiefging«, sagte sie. »Wir waren wie alle anderen. Vielleicht nicht ganz, denn mein Vater war ein Soldat,
     und in der Schule waren wir immer die Armeekinder. Wenn die
Flossies
, die Soldaten der Transportflugzeuge, losflogen, wußte die ganze Stadt davon – unsere Väter gingen gegen die Kommunisten
     kämpfen. Dann waren wir etwas Besonderes. Das gefiel mir. Aber die meiste Zeit waren wir wie die
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