Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
und glänzend auf Haupt und Schultern eines Mannes, der hoch oben auf einem zwei Häuser entfernten Dach stand. Der Mann ließ sein Gewehr sinken. Der Wind blähte sein Hemd auf und zerzauste sein Haar. Er sah in ihre Richtung.
    Sarah konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie wusste im selben Augenblick, wer er war. Wie in Trance versuchte sie, sich aufzurichten. Als er ihrem Blick entschwand, streckte sie die Arme nach ihm aus, rief seinen Namen, versuchte, ihm zu danken, ehe er für immer verschwunden war.
    »Geoffrey!«, schrie sie.
    Der Wind verwehte ihren Aufschrei. »Nein, komm zurück! Komm zurück!«, rief sie immer wieder. Aber sie erhaschte nur noch einen Blick auf sein blondes Haar, und dann war nichts anderes mehr um sie herum als ein nasses, leeres Dach, das in der Morgensonne glitzerte.
    Unten auf der Straße hallte der Schuss des Gewehrs wie Donnergrollen von den Dächern wider. Nick blickte hoch und sah sofort, dass Sarah nichts geschehen war.
    Hektisch suchte er die umliegenden Fenster ab. Wer hatte den Schuss abgegeben? War Sarah das Ziel gewesen? Hier unten auf der Straße war er völlig hilflos. Er konnte ihr nicht zur Rettung kommen. In größter Panik schrie er Potter zu: »Um Himmels willen, unternehmen Sie etwas!«
    »Tarasoff!«, brüllte Potter, »schicken Sie die Männer da hinauf! Finden Sie heraus, woher der Schuss kam!« Er wandte sich an einen holländischen Polizisten. »Wie lange dauert es noch, bis die Feuerwehrleute hier eintreffen?«
    »Fünf oder zehn Minuten.«
    »Bis dahin ist sie längst tot!«, rief Nick erregt und rannte auf das Haus zu. Er musste zu Sarah.
    »O’Hara!«, schrie Potter hinter ihm her. »Wir müssen erst das Haus räumen lassen.«
    Aber Nick hatte schon die Straße überquert und sprang auf die Tür zu. Sie war nicht verschlossen. Im Innern des Gebäudes rannte er die Treppen hinauf, indem er zwei Stufen gleichzeitig nahm. Die ganze Zeit horchte er angsterfüllt, ob noch ein weiterer Schuss fiel. Würde er Sarah tot vor sich liegen sehen, wenn er auf dem Dach ankam? Aber er hörte nur seine eigenen Schritte.
    Irgendwo unter ihm knallte eine Tür zu. Potters Stimme klang zu ihm hinauf: »O’Hara?«
    Nick rannte weiter.
    Die breiten Stufen führten zu einer schmalen Stiege, die zum Dach ging. Er keuchte die letzten Stufen hinauf und kroch durch die Tür auf das Dach.
    Draußen schien die Sonne. Nick blieb gebannt und für einen Augenblick geblendet stehen. Halb noch auf dem Teerstreifen lag mit aufgerissenen Augen die Leiche eines Mannes, um dessen Hals ein roter Schal flatterte.
    Die Dachtür wurde aufgestoßen. Potter zwängte sich hindurch und stieß fast mit Nick zusammen.
    »Wie furchtbar«, murmelte Potter und starrte auf den blutüberströmten Körper. »Das ist Magus! Hat er sich selbst erschossen?«
    Vom Dach über ihnen ertönte plötzlich ein Weinen, ein schrecklich verzweifelter Ausruf. Alarmiert sah Nick nach oben.
    Sarah griff hilflos ins Leere. Sie bemerkte weder Nick noch Potter. Ihr Blick war in die Ferne auf etwas gerichtet, das nur sie sehen konnte. Dann schrie sie, und der Schrei ging Nick durch und durch. Er verstand überhaupt nichts mehr. Es war der Aufschrei einer zu Tode erschreckten und in Panik geratenen Frau.
    Er wandte den Kopf und sah in die Richtung, wohin Sarah blickte. Dort waren nur Dächer, die taufeucht im Sonnenlicht schimmerten. Wie ein Echo hallte Sarahs Ruf von den Wänden zurück, mit dem sie wieder und wieder nach einem Mann schrie, den es nicht mehr gab.
    Als man sie schließlich vom Dach heruntergebracht hatte, war sie still und gefasst. Nick blieb an ihrer Seite, als man sie auf eine Bahre legte. Sie wirkte klein, schwach und verloren. Ihre Arme waren blutüberströmt. Er war sich kaum bewusst, was er in diesem Augenblick sagte oder tat. Er wusste nur, dass er bei ihr bleiben wollte.
    Weiter unten an der Straße wartete der Rettungswagen. »Ich werde mit ihr fahren«, flüsterte Nick und schob Potters Hand fort. »Sie braucht mich.«
    »Stehen Sie niemandem im Wege herum, O’Hara«, warnte Potter.
    Nick kletterte neben Sarahs Bahre in das Fahrzeug. Sie war bei Bewusstsein. »Sarah?«, flüsterte er.
    Sie wandte ihm den Kopf zu und sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, ich würde dich nie mehr sehen«, hauchte sie.
    »Sarah, ich liebe dich.«
    Potter steckte den Kopf durch die Tür der Ambulanz. »Um Himmels willen, O’Hara! Behindern Sie die Sanitäter nicht.«
    Nick warf einen Blick um sich und sah zwei erboste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher