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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
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durch«, hatte der Bürgermeister vor einer Woche in einem
     Zeitungsinterview erklärt. Während Carlos Visotti seinen Junggeselleneinkauf bezahlte, holte sie sich eine große Cola aus
     dem Kühlfach. Kein großartiger Ersatz, aber besser als nichts.
    Ein feuchter Nebel hatte sich inzwischen über die Straßen gelegt. Am Bordstein parkte ein prächtiger blauer Chopper.
    »Ich habe mir so eine Maschine gewünscht, seit ich ›Easy Rider‹ gesehen habe«, erklärte der junge Mann, während er einen Helm
     aus der Box hinter dem Sitz herausholte und ihn Isabel reichte. Sie lächelte. Den Film kannte sie von ihrem Bruder. Sie setzte
     den Helm auf und verschwieg geflissentlich, dass sie noch nie auf einem Motorrad gesessen hatte.
    Die Fahrt nach Hause war angenehm. Sie erlebte zum ersten Mal diesen ganz besonderen Schwindel, der einen überkommt, wenn
     sich ein Motorrad in die Kurve legt, und das gefiel ihr ziemlich gut. Auf jeden Fall war das besser als ihr alter Ford. Was
     wohl ihre jungen Mitarbeiter sagen würden, wenn sie eines Morgens auf so einer Maschine zur Arbeit käme? Sie schüttelte den
     Kopf. Genau genommen wusste sie es ganz genau. Leider spielten Äußerlichkeiten eine allzu große Rolle in den Firmen.
    Vor ihrem Haus angekommen, verabschiedeten sie sich per Handschlag. Als die Haustür hinter Isabel ins Schloss fiel, hörte
     sie, wie Carlos das Motorrad wieder anließ. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn nicht einmal nach seiner Arbeit gefragt
     hatte.
    Als sie die Wohnung betrat, stellte sie fest, dass Teo noch nicht zu Hause war. Missmutig zog sie sich den Schlafanzug an;
     jetzt blieb keine Zeit mehr für das heiße Bad, das sie so gerne genommen hätte, da die Heizung nicht besonders gut funktionierte.
     Isabel schenkte sich in der Küche ein Glas Cola ein und ging damit hinüber ins Wohnzimmer, wo sie auf dem Schreibtisch die
     diversen Akten, Grafiken und Notizen verteilte, die sie für ihren Berichtbenötigte. Sie machte die alte elektronische Olivetti an und begann zu tippen. Ihr Standpunkt war eindeutig: Massenentlassungen
     waren nie eine gute Lösung. Die meisten Unternehmen begingen den Fehler, ihre Anstrengungen aufs Marketing zu konzentrieren
     und andere Faktoren zu vernachlässigen, die imageprägend waren, wie zum Beispiel den Dienst am Kunden. In vielen Firmen wurden
     junge Leute mit Zeitverträgen ohne Perspektive eingestellt, und man schob ihnen die Verantwortung für den Umgang mit den Kunden
     zu. Diese jungen Leute brauchten ihr kümmerliches Gehalt, um ihren Eltern nicht länger auf der Tasche zu liegen, und deshalb
     folgten sie ohne Mucken den Anweisungen skrupelloser Vorgesetzter, etwa, Beschwerdeanrufe so lange weiterzuverbinden, bis
     der Betreffende die Nase voll hatte und nicht mehr anrief. Es war ein Fehler, so mit der Kundschaft umzuspringen. Isabel fand,
     dass viele der Firmen, die ihr Konzern übernommen hatte, über gutes Personal verfügten, das verantwortungsvolle Arbeit leistete
     und Kundenkontakte pflegte. Die Mehrzahl der leitenden Angestellten des Konzerns war leider außerstande anzuerkennen, welchen
     Gewinn man mittel- und langfristig aus einer hohen Kundenzufriedenheit ziehen konnte. Isabel wollte in ihrem Bericht die positiven
     Ergebnisse herausstellen, die die von ihr vertretene Personalpolitik erbracht hatte, wenn sie im Unternehmen doch einmal verfolgt
     worden war.
    Nach drei Stunden intensiver Arbeit legte sie eine Pause ein. Sie war todmüde. Aber es fehlten noch ein paar letzte Details.
     Sie stand auf und holte aus dem Zimmer ihres Bruders die kleine Musikanlage und eine CD.   So kam Bob Dylan doch noch zu seinem Recht. ›Nobody feels any pain‹

Im Vorjahr sie ihn live auf der Bühne erlebt. Sie hatte an einem Preisausschreiben eines nationalen Radiosenders teilgenommen
     und eines Samstagmorgens tatsächlich gehört, wie der Moderator ihren Namen verlas. Eine Woche später war sie mit ihrem Bruder
     durch die halbe Stadt zu dem Konzert gefahren. Dieses Erlebnis würde sie nie vergessen. ›She makes love just like a woman,
     yes she does‹

Der einzige Wermutstropfen war, bei bestimmten Liedern keinen Mann an ihrer Seite zu haben. Ihr Bruder Teo war selig, aber
     für einige Augenblicke hätte Isabel gerne jemand ganz Besonderen bei sich gehabt. All die Pärchen zu sehen, die sich in den
     Armen lagen, machte sie ein bisschen traurig. Sie hatte ihren Bruder sehr lieb, seit dem Tod der Eltern kümmerte sie sich
     jedoch
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