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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
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Prolog
    Alberto Hernán war rundum zufrieden. Die Languste war köstlich gewesen, und auch das Dessert hatte gehalten, was sein Anblick versprochen hatte.
     Um den Abend perfekt zu machen, hatte er eigentlich nur noch einen Wunsch:
    »Wie wär’s, wenn wir noch in ein Motel gehen, Vera?«
    Die Frau ihm gegenüber schüttelte den Kopf. Ihre lange pechschwarze Mähne hatte sie schon einige Male färben lassen, dennoch
     war der Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Begleiter offensichtlich.
    »Nein, Schatz, heute nicht. Meine Mädchen sind allein zu Hause.«
    »Ach komm, nur kurz«, bat er und schob die Glasschale mitten auf dem Tisch beiseite, so dass die fast heruntergebrannten Schwimmkerzen
     darin gefährlich schaukelten. »Wir könnten Isabel anrufen, damit sie nach dem Rechten sieht. Sie wohnt ganz in deiner Nähe.«
    Vera runzelte die Stirn.
    »Ich würde nie eine meiner Kolleginnen um so etwas bitten, Alberto. Im Büro würden sie mich für eine schöne Rabenmutter halten!«
    Alberto Hernán tat sein Vorschlag schon wieder leid. Er hätte den Mund halten sollen, wusste er doch genau, dass Vera seit
     dem Tod ihres Mannes wie eine Glucke über ihre Töchter wachte und sie so für all das zu entschädigen versuchte, was sie durchgemacht
     hatten.
    »Du hast ja recht, Süße. Entschuldige bitte. Weißt du, es war bisher ein so schöner Abend und da   …«
    »Ich weiß«, unterbrach sie ihn lächelnd und umschloss sanft seine ausgestreckte Hand. »Für Freitag suche ich mir auch eine
     Babysitterin. Versprochen.«
    Sie küssten sich lange und innig, bevor Alberto dem Ober winkte. Wenige Minuten später nahmen sie an der Garderobe ihre Mäntel
     in Empfang und verließen das Restaurant. Draußen wartete bereits der junge Portier mit dem Schlüssel des Mercedes, wofür ihm
     Alberto ein sattes Trinkgeld zusteckte.
    Kurz darauf steuerte er den Wagen in Richtung Autobahn. Für einen Mittwochabend herrschte wenig Verkehr. Über ihren Köpfen
     versuchte ein riesiger Mond durch die Wolken zu brechen. Vera zündete sich eine Zigarette an und zog langsam den Rauch ein.
    »Wann hörst du mit dem Rauchen auf?«, fragte er und musterte sie einen Augenblick lang, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder
     der Straße zuwandte.
    Vera fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen. »Wahrscheinlich, wenn ich wieder schwanger bin.«
    Sie lachten, und Alberto legte seine rechte Hand auf Veras nacktes Knie. Ihre Beine hatten nichts an Schönheit eingebüßt,
     seit sie sich bei ihm als Sekretärin beworben hatte. Viele Jahre hatte er sie begehrt, doch erst vor kurzem hatte er ihre
     Schenkel zum ersten Mal streicheln dürfen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal. Er wollte den Abschied so lange wie möglich hinauszögern,
     wollte noch nicht zusehen müssen, wie sie ihre Haustür aufschloss und in Richtung Aufzug verschwand. Nicht an diesem Abend.
    »Hast du dir schon überlegt, was du am Freitag tun wirst?«, fragte Vera, während sie sich vorbeugte, um nach einem Radiosender
     zu suchen, der ihr gefiel.
    »Das mit den Massenentlassungen behagt mir gar nicht, auch wenn ich weiß, dass es zurzeit das Rentabelste wäre. Ich hoffe,
     Isabels Expertise fällt überzeugend genug aus, dass ich die Mitglieder des Vorstands zum Einlenken bewegen kann und sie zumindest
     ein paar Hundert Arbeitsplätze erhalten. Allerdingsweiß ich nicht, ob sie noch viel auf die Meinung von uns Abteilungsleitern geben; sie lassen uns ja nicht mal mehr an ihren
     Sitzungen teilnehmen. Und wenn ich mich ihnen offen widersetze, kann es gut sein, dass sie mich rausschmeißen.«
    Aus dem Radio tönte jetzt Jim Morrisons rauchige Stimme. ›Waiting for the Sun‹. Vera drückte ihre Zigarette aus und drehte
     sich zu Alberto. Mit den Fingern fuhr sie ihm in das graue Haar.
    »Du wirst schon das Richtige tun, Schatz. Die Leute dürfen jedenfalls nicht durch unsere Schuld auf der Straße landen. Das
     ist schon viel zu oft passiert.«
    Alberto bog den Kopf zurück und schmiegte ihn in die Hand, die ihm jetzt zärtlich über den Nacken strich.
    »Ich weiß. Aber falls die da oben mich unter Druck setzen, werde ich nachgeben müssen. Ich will meinen Job nicht verlieren.
     Er ist das Wichtigste, was ich habe« – er warf ihr einen Blick zu – »nach meinen Jungs und   … nach dir.«
    Sie lächelte. Plötzlich leuchtete Albertos Gesicht auf, als hätte seine Haut Feuer gefangen. Vera kreischte entsetzt und schlug
     reflexartig die Hände vors Gesicht. Ihr
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