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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
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Richtung Erwachsenwerden in der großen
     Stadt.
     
    Das Haus
, in dem sie wohnten, war eines der riesigen Wohnblocks, die in den späten 1980er Jahren errichtet worden waren: eine gigantische
     Streichholzschachtel, in der Dutzende von Mittelschichtfamilien lebten. Isabel kam an die Einfahrt zur Garage, die sie sich
     mit den Nachbarhäusern teilten, betätigte die Türautomatik und fuhr zu ihrem Stellplatz. Dort stand aber bereits ein schwarzer
     Renault. Das kam öfter vor. Sie war zu erschöpft, um sich darüber aufzuregen. Stattdessen suchte sie sich einen freien Platz,
     parkte dort und stieg aus. ›And how does it feel‹   … Sie unterbrach zwar nur ungern einen Song von Bob Dylan, aber sie hatte an diesem Abend noch viel zu tun, und die Sitzung
     am nächsten Tag war von größter Bedeutung. Das Unternehmen hatte beschlossen, den Aufkauf von Konkurrenten zu beenden, und
     nun mussten Stellen abgebaut werden, um aus den Zukäufen Kapital zu schlagen. Isabel würde sich in ihrem Bericht gegendiese Strategie aussprechen, aber dazu brauchte sie gute Argumente, denn soweit sie wusste, teilte die Mehrheit der Topmanager
     nicht ihre Ansicht.
    Sie verließ die Tiefgarage durch den direkten Zugang zu ihrem Wohnhaus und rief den Aufzug. In der Kabine hatte jemand seinen
     Namenszug auf den Spiegel gesprüht. Isabel hasste diese Schmierereien, die auch die umliegenden Bushaltestellen und Fassaden
     zierten. Ihr gefielen die großen Wandgemälde der Sprayer, nicht aber diese billigen Tags, dieses moderne »Ich war hier«.
    »Ich kapier nicht, warum jemand das macht – einfach so«, hatte sie einmal zu Vera gesagt, als sie zusammen in Isabels Wagen
     zur Arbeit fuhren.
    »Die Jungs langweilen sich halt«, hatte Vera geantwortet und mit den Achseln gezuckt.
    Vera war nicht sehr redselig, hatte jedoch Isabel manches Mal aufgemuntert, wenn diese eines ihrer Tiefs hatte. Das machte
     sie zu einer Art Freundin. Señior Hernáns Sekretärin wohnte zwei Straßen weiter und hatte sich mit ihrem Mann, bis er starb,
     ein Auto geteilt; deshalb musste sie damals oft mit dem Bus fahren oder Isabel anrufen, damit diese sie abholen kam. Isabel
     hatte das nichts ausgemacht. Sie unterhielt sich gerne mit Vera, der man auf den ersten Blick ansah, dass sie sich von nichts
     unterkriegen ließ. Und so war es auch: Sie brachte eine Familie mit zwei kleinen Töchtern und einem Mann durch, der ein Alkoholproblem
     hatte – was sie erst eingestand, als sie Witwe wurde.
    Isabel erreichte ihr Stockwerk und kramte die Schlüssel aus der Handtasche. Beim Betreten der Wohnung schlug ihr Zugluft entgegen.
     Sie schaltete das Licht in dem schmalen Korridor an und ging durch die Wohnung. In Teos kleinem Zimmer, dessen Wände mit Fotos
     von Schauspielern und Filmplakaten übersät waren, stand das Fenster offen. Isabel machte es zu und setzte sich auf das Bett
     ihres Bruders, um sich die Schuhe auszuziehen. Sie war hundemüde, aber der Bericht wartete.
    Fünf Minuten später schlüpfte sie in ihren Pyjama undhängte ihre Bürokleidung in die winzige Speisekammer, die sie als Kleiderschrank nutzte. Dann ging sie in die Küche und wärmte
     in der Mikrowelle das Abendessen auf, das Teo für sie vorbereitet hatte. Ihr Bruder war ein guter Koch. In der ersten Zeit
     in der Schule hatte er mehrere Kurse besucht, war dann aber nirgends als Küchengehilfe genommen worden.
    Nach dem Abwasch beschloss sie, sich sofort an die Arbeit zu machen, aber vorher brauchte sie einen Kaffee.
    »Mist!«, sagte sie, als sie sah, dass die Dose leer war.
    Sie sah alle Schränke durch, doch es half nichts, sie würde sich noch einmal anziehen müssen. Sie hatte beim letzten Einkauf
     vergessen, Kaffee zu besorgen. Ohne Kaffee konnte sie nicht bis tief in die Nacht arbeiten. Ausgerechnet an dem Abend, wo
     sie den Bericht fertig schreiben musste. Sie hasste diese Augenblicke, in denen sich die Welt gegen sie verschworen zu haben
     schien.
     
    Vier Straßen weiter gab es eine Tankstelle mit einem kleinen Shop, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Das war einer der wenigen
     Vorteile, wenn man in der Großstadt lebte. Draußen war es kalt, und sie konnte ihren Atem sehen. Auf dem Weg zur Tankstelle
     traf sie keinen einzigen Fußgänger. Nur ein paar Autos durchbrachen die monotone Stille im Viertel.
    »Guten Abend«, grüßte Isabel, als sie kurz darauf den Laden betrat.
    Am Tresen stand eine junge Verkäuferin mit gefärbten Haaren, die gerade telefonierte und den
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